Lesereise Zypern
Präsident des Goethe-Instituts, der zur Wiedereröffnung des Hauses aus Berlin angeflogen kam. Da ist die Lage des Gebäudes, das das Goethe-Institut gemietet hat, mitten zwischen den türkischen und den griechischen Kontrollposten, ideal. Zu den Lesungen und Vorträgen kommen viele Menschen aus Nord und Süd. Es scheint fast so, als verbände das Institut von hier aus an der Schnittstelle von Orient, Afrika und Europa die kulturellen Strömungen ein wenig. Und darauf versteht sich kaum jemand besser als Björn Luley, der lange Zeit ein paar Kilometer weiter östlich für Goethe aktiv war – im syrischen Damaskus.
Gerade ist der deutsche Autor Uwe Timm zu Gast. Er liest aus seinem 2005 erschienenen Roman »Am Beispiel meines Bruders«. Nachdem er auf Deutsch vorgetragen hat, werden auch Ausschnitte der griechischen und türkischen Übersetzung verlesen. Die Zuhörerschar ist gebannt. Sein Buch handelt von Timms Bruder, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war und in Russland umkam. Es befasst sich mit Gewalt, Kriegsgräuel, Gehorsam und Gewissen – alles Themen, die auch die Menschen auf Zypern hautnah beschäftigen. Zwar stehen hier die Zeichen auf Entspannung, doch noch immer durchschneidet eine lächerlich erscheinende Grenze die Hauptstadt der Insel. Meist freundliche Soldaten bewachen die »grüne Linie«, die man zwar mit Passkontrolle überqueren darf, die aber trotzdem schmerzlich trennt.
Luley klagt derweil über kalte Füße. Der Institutschef zeigt auf die Klimaanlage, die dicht unter der Zimmerdecke angebracht ist. Aus einem kleinen Schlitz bläst sie heiße Luft ins Nichts und erwärmt so eine dünne Luftschicht unter der Decke. Der restliche Raum darunter behält seine winterliche Kühle. Mag das Gerät im Sommer die warme Luft wegsaugen, jetzt, im Januar und Februar, soll es das Büro heizen. Doch wer sitzt schon direkt unter der Decke?
Das neue Kulturprogramm liegt vor. Henrietta Horn, eine der bekanntesten deutschen Choreografinnen, ist zu Gast auf der Insel. Eine Woche lang unterrichtet sie zypriotische Tänzerinnen und Tänzer an der Universität von Nikosia – auf Einladung des Goethe-Instituts. Zusammen mit dem Dance Gate Lefkosia Cyprus erarbeitet sie eine kleine Choreografie. Henrietta Horn kann Gefühle tanzen. Wer je ihre Körperbewegungen zur Harfenmusik gesehen hat, ihren eindrucksvollen Zweikampf, ihre Gesichtspoesie und ihren blitzschnellen Stil, der ist entzückt. Er verlangt, augenblicklich mitzumachen. Er möchte selbst tanzen und sich betanzen lassen. Deutsche Kultur kann noch betören.
Russisch Karaoke
Limassol bietet dem Urschrei des Lebens das passende Mikrofon
»Ra, Ra, Rasputin, Lover of the Russian Queen.« Die jungen Blondinen Irina und Anastasija singen im Kellerlokal einer Gasse der südzypriotischen Hafenstadt Limassol lauthals den Klassiker der Gruppe Boney M. in ihr Mikrofon. Er ist älter als sie. 1978 kam der Hit auf den Markt, zusammen mit ihrem »Brown Girl in the Ring« und »Mary’s Boy Child«. Die beiden zwanzigjährigen Russinnen schmettern nicht nur den auch in der damaligen Sowjetunion berühmt gewordenen Rasputin-Schlager. Sie singen Karaoke quer durch die russische Hitparade.
Von Stas Michajlow, der mit seinen Texten von Rosen, roten Lippen und tiefer Leidenschaft die Schlagergemeinde verzaubert, bis Valery Meladze reicht das russische Repertoire. Über Liebe, Leid und Lust geht es durch die Höhen und Tiefen der russischen Seele. Wer will nicht einmal für vier Minuten Meladze sein? Selbst das »Se La Vi« von 2003 singt sich heute noch so prickelnd. Mit wenigstens einer der drei Frauen aus der Girl Group »Nu Virgos«, mit der Meladze auf den Leinwänden zu sehen ist, kann sich fast jede Sängerin identifizieren. Die Karaoke-Frauen von Limassol zeigen beim Absingen vom Bildschirm hingebungsvoll, was in ihnen steckt – gesanglich und gymnastisch.
Der Beamer unter der Decke zaubert Bilder auf eine große Leinwand, auf der die kyrillischen Liedzeilen in Gelb erscheinen und sich blau einfärben, sobald sie gesungen werden. Von den Wänden leuchten Hammer und Sichel als Erinnerung an die Sowjetunion. Russian Karaoke Bar – das ist der Heimathafen für die Schar junger Gäste aus dem zweitausendvierhundert Kilometer nördlich liegenden Moskau. Nach den Briten liegen die russischen Touristen auf Platz zwei bei den Ankünften auf Zypern, und die Zuwachsraten bei ihnen sind zweistellig. Erst waren es die Briefkastenfirmen, über die in der Hafenstadt viele
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