Lesley Pearse
den abgelegeneren Farmen zurücklegen musste. Er beerdigte die Toten und tröstete die Hinterbliebenen, segnete junge Ehepaare und taufte die Neugeborenen.
Es gab Menschen mit alten, weitläufigen Farmen, die man locker als Landadel bezeichnen konnte, denn sie wohnten in mächtigen Häusern im Kolonialstil. Sie hatten riesige, üppig grüne Gärten und weiträumige Pferdekoppeln. Obwohl Giles sie in seiner Kirche begrüßte, wollte er den gesellschaftlichen Kontakt mit ihnen vermeiden, denn sie waren Sklavenhalter.
Sklaverei war ein Thema, das die Gemüter erhitzte, und obwohl Giles die Vorstellung ablehnte, dass Männer, Frauen und Kinder das Eigentum anderer Menschen sein konnten, wusste er, dass er die Hitzköpfe beider Seiten besänftigen musste, wenn er seiner Gemeinde gut dienen wollte. Wenn er die Sache ruhig und mit kühlem Kopf betrachtete, konnte er selbst sehen, dass der Großteil der Sklavenhalter anständige Menschen waren, die ihre Sklaven gut behandelten. Viele der Schwarzen, die sich durch die Abolitionistenbewegung zum Fortlaufen hatten überreden lassen, fanden sich in größerem Elend wieder, als sie jemals unter ihren früheren Besitzern erfahren hatten.
Viel beunruhigender als den Gedanken an die wohl genährten Sklaven auf den Plantagen fand Giles die Situation der Armen, die unten am Missouri River wohnten. Sie waren völlig verarmt und lebten unter ebenso schlimmen Bedingungen wie die Slumbewohner in New York. Sie hausten in Hütten, die nicht einmal für Tiere geeignet gewesen wären, und manche hatten Löcher in den Boden gegraben, die sie mit einem Dach aus Treibholz abdeckten. Einige schliefen in Zelten, und allesamt gingen sie das Risiko ein zu ertrinken, sollte der Wasserpegel steigen.
Viele von ihnen waren entlaufene Sklaven und Heimatlose, aber ebenso viele waren Weiße, und ähnlich wie die Menschen in Five Points wurden sie als minderwertig betrachtet und ignoriert. Unten am Fluss wurden die meisten Verbrechen begangen, es war eine Brutstätte für Krankheiten und Laster. Doch Giles war ratlos, wie er diesen Menschen helfen sollte. In den meisten seiner sonntäglichen Predigten kam er auf die Situation am Fluss zu sprechen, um ein wenig christliche Wohltätigkeit zu erbitten. Doch der Großteil seiner Worte fiel auf taube Ohren, denn seine Gemeindemitglieder waren zwar freundliche Menschen, aber sie lebten selbst nicht im Überfluss. Anders als in New York hatte Giles auch keine kirchlichen Mittel zur Verfügung, die er zur Linderung des Elends hätte nutzen können. Doch er hörte nicht auf, dies in seinen Predigten zu erwähnen. Er hoffte, dass nach einer Zeit seine Botschaft gehört und umgesetzt werden würde.
Während des gesamten Sommers strahlte Giles vor Glück. Er hatte sein dunkles Haar länger wachsen lassen und störte sich nicht daran, dass seine Kleidung immer mit einer dicken Staubschicht bedeckt war. Er lächelte mehr als früher und lachte ständig. Matilda beobachtete ihn sogar eines Tages mit seiner Tochter, der er beibringen wollte, wie man auf einen Baum kletterte. Ein anderes Mal kam er spätabends von einer Hochzeitsfeier zurück und bestand darauf, Matilda und Lily noch in dieser Nacht die Tanzschritte beizubringen, die er gelernt hatte. Sie brauchten keine Zeitung, denn er versorgte sie mit Nachrichten und Klatsch. Auch verging kaum ein Tag, an dem er Lily und Matilda nicht für ihre harte Arbeit lobte.
Matilda war von vielen Frauen gewarnt worden, der erste Winter in Missouri sei die Feuerprobe für Neuankömmlinge. Als im Oktober das Laub von den Bäumen zu fallen begann und Tabitha wieder den ganzen Tag die Schule besuchen musste, beobachtete sie Lily ängstlich. Sie hatte das sommerliche Leben im Freien lieben gelernt, und Matilda befürchtete, Lily würde wieder in ihre früheren Launen zurückfallen, weil es weniger zu tun gab und keine Besucher mehr auf der Terrasse saßen.
Aber anstatt sich zurückzuziehen, als der Regen einsetzte, für Tage nicht aufhörte und die Straße in einen gefährlichen Sumpf aus rotem Matsch verwandelte, wirkte Lily noch glücklicher. Sie beschäftigte sich damit, Gemüse und Früchte einzukochen, neue Kleider für Tabitha zu nähen und den Gemüsegarten für das kommende Frühjahr zu planen. Abends las Giles den Frauen aus seinen Büchern vor, während sie sich ihrer Handarbeit widmeten. Als das Erntedankfest und Weihnachten näher rückten, begann Lily mit der Dekoration des Hauses und der Kirche. Und selbst nach
Weitere Kostenlose Bücher