Lesley Pearse
tief gebräunt. Tabby erzählte jedem, sie wolle nie mehr in einer Stadt wohnen.
Doch so spaßig es ihnen erschienen war, einen Gemüsegarten zu planen und anzulegen, mussten sie auch entdecken, dass Graben, Pflügen und Harken kreuzbrecherisch anstrengend war. Abends taumelten sie ins Wohnzimmer, hielten sich den schmerzenden Rücken und verarzteten die Blasen an ihren Händen. Doch als die ersten Setzlinge in ordentlichen Reihen wuchsen, waren sie zufrieden, und das Wissen, dass sie eine eigene Quelle an Nahrungsmitteln zur Verfügung hatten, was auch immer passieren mochte, entschädigte sie für die Mühen auf dem Feld.
Anders als Matilda erwartet hatte, verzichtete Lily auch nach der Reise auf ihre Reifröcke und Korsetts. Von Montag bis Samstag sah man sie glücklich mit einem einfachen Kleid und Sonnenhut herumlaufen. An den Geruch der beiden kleinen Schweine, die sie gekauft hatten, hatte sie sich längst gewöhnt, ja sie hatte die Tiere sogar ins Herz geschlossen und ihnen Namen gegeben, Kain und Abel. Ihren Unwillen, Hühner zu halten, hatte sie sofort abgelegt, nachdem sie das erste frisch gelegte Ei gegessen hatte.
Doch ein kleiner Teil der vornehmen Lily war noch übrig geblieben. Sie war beinahe vor Schock in Ohnmacht gefallen, als eine Nachbarin ihr geraten hatte, Pferdeäpfel einzusammeln und sie als Düngemittel zu verwenden. »Wie gut dies auch immer für die Ernte sein mag«, rief sie, »möchte ich keinesfalls dabei beobachtet werden, wie ich mit einem Haufen Pferdemist durch die Straßen laufe!«
Sie führten ein vollkommen anderes Leben als in New York. Es gab keine große Auswahl an Lebensmitteln, keine Einladungen, Konzerte oder Theaterstücke. Aber wenn am Abend die Arbeit erledigt war, kamen Nachbarn zu Besuch und brachten Kuchen, Früchte oder Gemüse mit. Gemeinsam verbrachten sie die Stunden auf der Terrasse, tranken Limonade und tauschten Erfahrungen aus.
Diese Menschen waren nicht mit der Gesellschaft zu vergleichen, mit der sich Lily und Giles in New York umgeben hatten. Sie waren einfache Leute meist deutscher Herkunft, für die Reichtum bedeutete, einen dritten Raum zusätzlich zu den primitiven Hütten zu haben, die sie sich selbst gebaut hatten, oder einen richtigen Ofen, wie die Milsons einen besaßen.
Die meisten von ihnen waren erst nach einer Reihe von Umzügen in Independence angekommen, wo sie nach fruchtbarerem Land suchten oder ein neues Geschäft beginnen wollten. Sie hatten alle ein hartes Leben hinter sich. Viele Frauen hatten mehrere Kinder verloren oder lebten bereits in der zweiten oder dritten Ehe, weil ihre früheren Partner gestorben waren. Matilda hörte viele Erzählungen, wie die in Deutschland gebliebenen Eltern der Immigranten für ihre Söhne nach Ehefrauen in Hamburg oder Berlin gesucht hatten und die Männer den Frauen per Briefwechsel den Hof gemacht hatten. Meist hatten sie sich erst kurz vor der Hochzeit zum ersten Mal gesehen.
Romantische Liebe, wie Matilda sie sich ersehnte, schien es nicht zu geben. Die Ehe war ein Vertrag, und wenn es keine Liebe gab, arrangierten sich die Ehepartner, so gut es eben ging. Vielleicht wurden sie durch die harte Arbeit zusammengehalten oder durch ihren Glauben, denn den sonntäglichen Kirchgang verpasste kaum einer von ihnen.
Mit ihrer besten Kleidung strömten diese frommen Menschen am Sonntag in Scharen nach Independence. Oft fuhren sie mit ihren Kindern schon nach Sonnenaufgang los, um Gott für seine Segnungen zu danken und ihn um Stärke bei zukünftigen Katastrophen zu bitten. Aber der Kirchgang bot auch eine Gelegenheit, sich mit anderen Menschen zu treffen, Neuigkeiten auszutauschen und Freundschaften zu schließen.
Auch Matilda und Lily entdeckten bald den Vorteil, sich mit den weiblichen Nachbarn anzufreunden und sie abends einzuladen. Angelina aus Neapel brachte ihnen bei, wie man Nudeln kochte, und von Heidi aus Berlin lernten sie die Zubereitung von Sauerkraut und Bratwürstchen. Mrs. Homberger wusste, wie man Schweinefleisch für den Winter pökelte und aus Tierfett eigene Seife herstellte. Im Gegenzug brachte Lily den Frauen Englisch bei, und ihre feine Art und Kultiviertheit wurde von denen bewundert, die nie in einer Stadt gelebt hatten.
Giles schien während dieser Sommertage in jeder Hinsicht über sich hinauszuwachsen. Die Predigten waren im Gegensatz zu seiner Sorge um die Gemeindemitglieder nebensächlich. Er besuchte sie alle in seinem neuen Einspänner, wobei er oft fünfzig Meilen zu
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