Lesley Pearse
den anderen gegenüber einen Vorteil verschafften. Sie waren einfallsreich, hatten ein gutes Gespür, fantastische Ideen, einen scharfen Verstand und waren äußerst zäh und widerstandsfähig. Matilda hörte eines Tages, wie Cissy forderte, dass ihr Wagen an der Spitze des Zuges gehen sollte. Ihre Hartnäckigkeit, vielleicht gepaart mit ihrem guten Aussehen, ließ den Treckführer schließlich zustimmen.
»Aber warum möchtest du unbedingt an der Spitze fahren?«, fragte Matilda. Sie glaubte, dass dies sicher der gefährlichste Platz sein würde, den sie sich hätte aussuchen können.
Cissy blickte Matilda an, als wäre sie ein wenig schwer von Begriff. »Nun ja, der Weg wird ebener sein, unsere Ochsen gelangen zuerst an das Wasser und das beste Gras, und wir haben nicht den Staub der anderen in den Augen, wenn es trocken ist.«
Dies hatte Matilda nicht bedacht und lobte den gesunden Menschenverstand ihrer Freundin.
»Ich denke, davon habe ich einigen«, erklärte Cissy ein wenig empört. »Als Kind musste ich es bereits lernen. Ich habe zwar keine Bildung, aber ich höre den Menschen zu und merke mir, was sie sagen.«
Sie erzählte Matilda, dass Sidney und sie selbst John dazu gebracht hatten, ihnen das Schießen beizubringen. »Ich werde nicht so sein wie einige der anderen«, fuhr sie fort und zeigte auf eine Gruppe Frauen, die im Gras saßen und nähten. »Sie wären erledigt, wenn sie ihren Mann verlören. Ich werde sichergehen, dass ich alles auch allein kann, den Wagen lenken, Büffel schießen und sie ausnehmen. Ich war noch nie der Typ für diese eleganten, damenhaften Beschäftigungen.«
Am Morgen, als der Treck losziehen sollte, schlüpfte Matilda mit Tabitha leise aus dem Haus, um sich zu verabschieden. John saß bereits auf dem Wagen, hielt die Zügel in den Händen und wartete auf das Startsignal, während Sidney und Peter neben ihm saßen. Cissy war damit beschäftigt, die Betten im Wageninnern zu machen, aber als sie Matilda sah, sprang sie hinunter und lief zu ihr hinüber.
»Du hättest nicht herkommen dürfen«, brummte sie und umarmte Matilda heftig. »Du wirst mich nur zum Weinen bringen.«
»Ich hätte euch nicht fahren lassen können, ohne dich ein letztes Mal in den Arm zu nehmen. Außerdem muss ja jemand das Winken und Jubeln übernehmen.«
»Ich werde John dazu bringen, dir zu schreiben, sobald wir in Oregon sind«, versprach Cissy, und in ihren Augen glitzerten Tränen, die sie zurückzuhalten versuchte. »Wenn du jemals die Nase von all dem hier voll haben solltest, kommst du zu uns. Versprichst du mir das?«
Matilda glaubte, dass dies zwar nicht sonderlich wahrscheinlich war, leistete das Versprechen aber dennoch.
»Kümmere dich um Mrs. Milson«, bat Cissy. Als sie sichergestellt hatte, dass Tabitha außer Hörweite war, zog sie Matilda zu sich heran. »Ich vermute, ihr steht eine schwere Geburt bevor. Ihr Leib ist zu dick für eine so zierliche Frau. Schau zu, dass der Doktor frühzeitig da ist – und nicht eine dieser alten Hebammen, die glauben, sie wüssten alles.«
Matilda stockte der Atem. Sie wusste, dass Cissy so etwas Beunruhigendes nicht sagen würde, wenn sie nicht daran glauben würde. »Natürlich werde ich das«, versprach sie.
Cissy schloss Matilda fest in die Arme, doch ein schriller Pfiff ließ sie zusammenfahren. »Das ist das Startsignal«, erklärte sie eilig. »Ich werde dir nur noch eines sagen, bevor ich gehe. Ich schulde dir noch etwas, Matilda Jennings. Das habe ich nicht vergessen. Wenn du jemals in Schwierigkeiten gerätst oder eine Freundin brauchst, kommst du zu mir. Ich würde alles für dich tun, denn dir verdanke ich mein neues Leben.«
Sie beugte sich hinunter, um Tabitha zu küssen, drehte sich um, rannte zum Wagen hinüber und sprang flink wie eine Katze neben John auf den Kutschbock. John warf Matilda eine Kusshand zu und lächelte. Der kleine Peter winkte aufgeregt, dann sprang Sidney vom Wagen und rannte auf Matilda zu.
»Das hier ist für dich«, meinte er und reichte ihr ein kleines Päckchen, das in braunes Papier gewickelt war. »Öffne es erst, wenn wir fort sind.«
»Ich werde es hüten, was auch immer es ist«, versicherte Matilda und umarmte ihn für einen Moment fest. »Sei ein guter Junge, Sidney, pass auf Cissy und Peter auf, und versuche, mir manchmal zu schreiben. Vielleicht werden wir uns eines Tages wiedersehen.«
Er küsste sie auf die Wange und verschwand ohne ein weiteres Wort. Als der Zug losfuhr, verkrampfte
Weitere Kostenlose Bücher