Lesley Pearse
auf und ab gehen. Meistens war er still und wollte nicht über die tragischen Geschehnisse reden. Gewöhnlich saß er zusammengesunken in seinem Sessel und blickte ins Leere.
Eines Abends, nachdem Tabitha zu Bett gegangen war, schlug Matilda ihm vorsichtig vor, eine Predigt für den Gottesdienst am kommenden Sonntag vorzubereiten. Sein Posten in der Kirche war übergangsweise von einem anderen Geistlichen aus St. Josephs übernommen worden, einer kleinen Stadt flussaufwärts, aber er wollte bald in seine eigene Gemeinde zurückkehren.
»Wie kann ich jemals wieder die Kirche betreten?«, rief er. »Ich habe meinen Glauben verloren.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte sie. »Ich habe dich ein paar Mal in der Kirche gesehen, und du hast gebetet.«
»Ich habe nur noch Zorn in meinem Herzen«, fuhr er sie an. »Diese andere Frau, der Doktor Treagar zur Seite stand, als Lily in den Wehen lag, hat bereits zwölf Kinder, und sie hat jedes einzelne von ihnen vernachlässigt. Warum hat Gott sie nicht an Lilys Stelle zu sich genommen? Ihren Kindern erginge es ohnehin besser, wenn sie fort wäre.«
Matilda war entsetzt, etwas Derartiges aus seinem Mund zu hören. »Das meinst du nicht ernst, Giles. Du wärst völlig außer dir, wenn eine andere Frau gestorben wäre, während der Doktor Lily beigestanden hätte.«
»Oh, nein. Ich hätte gejubelt, und ich würde meine Seele auf der Stelle dem Teufel verkaufen, um Lily wiederzubekommen.«
»Giles!«, rief sie erschüttert aus. »Mir scheint es, als hätte der Teufel dich bereits am Wickel.«
»Du hast sie doch auch geliebt«, entgegnete er und sah sie scharf an. »Wünschst du dir nicht, jemand anderes wäre an ihrer Stelle gestorben?«
Matilda stemmte die Hände in die Hüften und blickte ihn finster an. »Wen hätte ich gewählt? Jemanden, den wir kennen? Oder einen armen Sklaven, einen betrunkenen Taugenichts aus New York, einen Indianer, dessen Leben ohnehin nichts wert ist? Es gab einmal eine Zeit, in der du um jede einzelne unglückliche Seele genauso besorgt warst wie um deine eigene Familie.« Sie brach in Tränen aus.
»Warum weinst du jetzt?«, fragte er erbost.
»Ich habe den Giles verloren, den ich früher bewunderte«, schluchzte sie und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Das allein wäre schon schlimm genug, aber wie würde Lily sich fühlen, wenn sie wüsste, dass durch ihren Tod die Erde um einen Mann beraubt worden ist, der immer für Gerechtigkeit gekämpft und die ganze Welt mit seiner Liebe umarmt hat?«
Er schwieg.
Nach einer Zeit blickte sie auf und sah, dass auch er weinte. Stille Tränen rannen seine Wangen herab. »Oh, Giles. Was soll nur aus uns werden?«
Giles schloss seine Arme um ihre Taille, lehnte seinen Kopf auf ihre Brust, und sie weinten gemeinsam. Lange schon hatte Matilda ihren eigenen Kummer unterdrückt, aber als sie sich so über ihn beugte und ihr Gesicht auf seine dunklen Locken legte, während seine Arme sie fest umschlungen hielten, schluchzte auch sie, bis die Quelle ihrer Tränen versiegt war.
»Du hast mein Haar nass gemacht«, murmelte Giles ein wenig später und betastete es überrascht.
Sie trat einen Schritt zurück und bemerkte, dass ihr Kleid auch durchnässt war. »Und du mein Kleid«, gab sie zurück.
Ihr erstes Gefühl war Verlegenheit, dass sie sich so hatte gehen lassen, aber dies wurde schnell von Unbehagen verdrängt, denn die Art und Weise, wie sie Giles gehalten hatte, war ein völlig unangemessenes Verhalten, sogar unter den tragischen Umständen.
»Ich glaube, du hast den Teufel verjagt … oder vielleicht ertränkt«, meinte er mit einem halben Lächeln. Und plötzlich war es Matilda vollkommen gleichgültig, wie es ihr gelungen war, dieses Lächeln auf seine Lippen zu zaubern, denn es war sein erstes seit Lilys Tod.
»Jetzt bin ich aber erleichtert«, erwiderte sie. »Wir haben genug Ärger am Hals, auch ohne den Teufel um uns herum.«
Während sie Kaffee kochte, erklärte sie ihm deutlich, dass er wieder an die Arbeit gehen musste, weil die Menschen in Independence auf ihn angewiesen waren. »Ich sollte Lilys Platz in der Schule einnehmen«, fügte sie hinzu. »Außerdem sollten wir dieses Haus wieder in ein gutes Zuhause verwandeln, in dem Tabitha groß werden kann.«
Er nickte zustimmend. Seine Augen waren immer noch getrübt, aber der Zorn war verschwunden. »Du hast natürlich Recht«, gab er zu. »Wie fast immer. Ich wünsche mir übrigens nicht, dass an Lilys Stelle eine andere Frau
Weitere Kostenlose Bücher