Lesley Pearse
immer regelmäßiger, aber sie konzentrierte sich darauf, den Himmel durch den Spalt zu beobachten. Erst im Morgengrauen wollte sie Tabitha wecken.
Sie spürte Giles’ und Lilys beruhigende Gegenwart und zog den Quilt herüber, den sie gemeinsam mit Lily genäht hatte, um sich zu trösten. Sie erinnerte sich, wie Lily damals in der Küche gesagt hatte: »Lass uns eine Menge Rot für die Leidenschaft einnähen.«
Als der Himmel sich langsam erhellte, wurden die Farben des Quilts immer lebendiger. Jede einzelne schien in diesem Moment eine eigene Bedeutung anzunehmen. Grün für die Felder der englischen Heimat, Violett für die Veilchen, die sie auf den Straßen von London verkauft hatte. Orange war die Farbe des Haares ihrer beiden Halbbrüder und Blaugrau die des Atlantiks, den sie überquert hatten. Gelb stand für die Kornfelder, die sie auf ihrer Reise nach Missouri bestaunt hatten, Türkis war die Farbe des Himmels über den Reisenden des Trecks. Rosa erinnerte sie an das Kleid, das sie bei ihrer ersten Begegnung mit Flynn getragen hatte, und Weiß war das Nachthemd gewesen, das Giles ihr während ihrer stürmischen Nacht vom Körper gerissen hatte.
Plötzlich war die Sonne aufgegangen und leuchtete durch den hinteren Teil des Wagens auf Tabithas Gesicht. Ihr sonst glattes Haar war zerzaust, und ihre Wangen glühten. Sie sah in diesem Moment Giles sehr viel ähnlicher als Lily, und trotz ihres Schmerzes fühlte Matilda eine Welle von Zärtlichkeit für das Mädchen in sich aufkommen.
»Tabitha, hörst du?« Matilda streichelte ihr sanft über das Gesicht.
Das Kind erwachte sofort, richtete sich kerzengerade auf und rieb sich die Augen. »Ich habe von Mama und Papa geträumt. Sie sind hier gewesen. Habe ich geschrien?«
»Nein, ich habe dich geweckt, damit du Mrs. Jacobson holst. Weißt du, das Baby wird bald kommen.« Eine weitere Wehe folgte, die sogar noch heftiger war als die vorhergehenden, und sie musste sich bemühen, nicht laut aufzuschreien. »Zieh dich an, und geh sie holen. Ich bin sicher, du darfst bei ihren Kindern bleiben, bis ich dir das Baby zeigen kann.«
Das Mädchen wandte sich ihr zu, und seine Augen waren voller Misstrauen. Matilda erinnerte sich, dass Tabitha ihre Mutter nie wiedergesehen hatte, nachdem sie bei der Geburt fortgeschickt worden war. »Mir wird nichts passieren«, versicherte sie und zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. »Ich glaube, das Kind wird sehr bald kommen. Lauf jetzt los, ich brauche Mrs. Jacobson wirklich.«
Tabitha kletterte aus dem Bett und zog sich in wenigen Sekunden an. Sie setzte sich ans Ende des Wagens, um ihre Stiefel überzuziehen. »Ich werde nicht fortbleiben!«, sagte sie und sah über ihre Schulter stirnrunzelnd zu Matilda hinüber. »Ich werde draußen warten. Ich möchte die Erste sein, die meinen kleinen Bruder halten darf.«
Matilda versuchte aufzustehen, nachdem Tabitha gegangen war. Sie hatte alle notwendigen Dinge in einer Holzkiste untergebracht und sie unter das Kopfende des Bettes gestellt. Es gelang ihr, sich herumzurollen und sich auf Händen und Knien aufzurichten, als plötzlich die nächste Wehe einsetzte und sie in dieser Position bleiben musste, bis Mrs. Jacobson eintraf. Sie war eine große, kräftige Frau Anfang vierzig mit ergrautem Haar, und sie keuchte erschöpft, während sie den Wagen erklomm.
»Verflucht, Mrs. Jennings, was tun Sie da?«, fragte sie. »Das ist keine Position, in der man ein Kind gebärt.«
Mit energischem Griff zog die Frau schließlich die Holzkiste unter dem Bett hervor. Sie hob Matildas Nachthemd, legte eine Hand sanft auf ihren Bauch und nickte, als eine weitere Wehe kam.
»Er scheint es eilig zu haben«, bemerkte sie, und ihre Erfahrung beruhigte Matilda. »Also bereiten wir uns besser auf ihn vor. Ich habe zwar noch nie einer Mutter geholfen, ihr Kind auf den Knien zur Welt zu bringen, aber es gibt ja immer ein erstes Mal.«
Die Frau handelte geübt und sehr schnell. In kürzester Zeit hatte sie eine Gummimatte, ein Baumwolllaken und dickes braunes Papier unter Matilda gelegt und einen Kübel für die Nachgeburt gefunden. Sie hatte eine kleine Schüssel und eine Schere für die Nabelschnur mitgebracht. All diese Utensilien und ein sauberes weißes Tuch, in das sie das Baby wickeln wollte, legte sie auf die Holzkiste und schob sie in Reichweite an das Bett heran.
»Ich suche nur schnell jemanden, der heißes Wasser für uns kocht«, erklärte sie. Mrs. Jacobson hatte den Wagen kaum
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