Lesley Pearse
so viel durchgemacht und sich niemals beschwert. Stumm schwor sie sich, dem Mädchen die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen, egal, was passieren würde. Denn Tabby hatte nur das Beste verdient.
Zwei Wochen später stand Matilda auf dem Deck eines kleinen Dampfers und winkte ihren Freunden zum Abschied zu. In einem Koffer trug sie zwei Kleider zum Wechseln, Holzproben und eine Preisliste von John bei sich, doch sie fühlte sich, als würde ihr das Herz aus dem Leib gerissen. John hielt Susanna auf dem Arm, Tabitha und Peter standen neben Sidney, und sie alle winkten ihr wie wild zu. Außer den drei Kleinsten war dennoch allen die Bedeutung dieses Abschieds bewusst, das wusste Matilda. Sicher schickte jeder stille Gebete für ihre Sicherheit, ihren Erfolg und ihre baldige Heimkehr zum Himmel.
Zuerst war Cissy über ihren Vorschlag entsetzt gewesen. Ihre tränenreichen Proteste gründeten sich hauptsächlich auf ihrer Angst um die Freundin, aber schließlich hatte sie eingesehen, dass der Plan vernünftig war, und zugestimmt. Außerdem hatte sie darauf hingewiesen, dass Matilda wie eine Dame von Stand aussehen musste, wenn sie erfolgreich sein wollte. Also hatten sie zu diesem Zweck den Koffer mit Lilys Kleidung durchgesehen. Matilda trug jetzt Lilys dunkelgrünen Wollmantel, der mit Samt besetzt war, und einen passenden Hut. Außerdem hatte sie ein dunkelgraues Kleid mit Spitzenkragen angezogen. Der Reifrock war unbequem, und ohne Cissys Einsprüche hätte sie sicher darauf verzichtet, aber sie vermutete, es war ein kleiner Preis für den wirklich eleganten Eindruck, den sie nun hinterließ.
Die Gesichter der Kinder begannen zu verschwimmen, sobald der Dampfer losfuhr, und Matilda konnte nur noch Sidneys roten Haarschopf und Tabithas hellgrünen Hut erkennen. »Ich liebe euch«, flüsterte sie und wischte sich über die feuchten Augen. »Passt auf euch auf, bis ich wieder da bin.«
Es war Nacht, als der Dampfer zwei Wochen später in San Francisco einlief, und der Anblick der Stadt begeisterte Matilda. Es lagen an die dreihundert Schiffe vor Anker, und hinter ihnen erhob sich etwas, das aussah wie ein großes, golden schimmerndes Amphitheater. Später konnte sie erkennen, dass es eigentlich tausende von Zelten waren. Sie waren vom Ufer bis an die umliegenden Hügel errichtet worden, wobei das goldene Leuchten von den Kerzen und Laternen herrührte, die in den Zelten entzündet worden waren. Während sie auf den Hafen zusteuerten, nahm sie neben dem Geräusch der Wellen und des Windes ein Summen wahr, das immer lauter wurde, bis es sich schließlich als Gemisch aus Musik und Geschrei entpuppte.
Sie drängte sich ängstlich an die Seite, als die anderen Passagiere, ausschließlich Männer und viele von ihnen betrunken, sich den Weg zu dem kleinen Beiboot erkämpften. Der Kapitän fasste sie am Ellenbogen und überzeugte sie, zu ihrer eigenen Sicherheit bis zum Morgen an Bord zu bleiben. Dankbar nahm sie sein Angebot an. Plötzlich war ihr klar, wie verletzlich eine allein stehende Frau tatsächlich sein konnte.
Kalter, feuchter Nebel hing in der Luft, als man sie früh am nächsten Morgen an Land ruderte. Sie zog ihr Cape tiefer ins Gesicht und sagte sich, dass sie zunächst einen sicheren Ort finden musste, an dem sie schlafen und tagsüber ihre wenigen Habseligkeiten abstellen konnte. Als sie an Land klettern wollte, wurde sie von einem wild aussehenden Mann mit einer Mütze aus Waschbärfell förmlich aus dem Boot gewuchtet. Er trug ein Gewehr über der Schulter, und Furcht überkam sie. Sie war plötzlich umgeben von Männern, die sie anstarrten. In ihren Gürteln steckten Messer und Pistolen, und sie verströmten einen unangenehmen Geruch.
»Haben Sie keine Angst«, meinte der Mann mit der Fellmütze mit rauer Stimme. »Keiner will Sie verletzen oder ausrauben. Die Männer haben einfach nur schon lange keine Lady mehr gesehen.«
Sie dankte ihm flüsternd und eilte mit ihrem Koffer in der Hand davon. Ihr Herz klopfte so laut wie die Hämmer, deren stetiges Schlagen auf die Ambosse aus der ganzen Stadt widerhallte. Matilda suchte sich einen Weg durch die Waren, die einfach auf der Straße herumstanden, wobei sie darauf achten musste, nicht von einem der Wagen überfahren zu werden, die ungeachtet der Menschenmengen mit höchster Geschwindigkeit durch die Straßen jagten. Als sie endlich die relative Sicherheit einer Hufschmiede erreicht hatte, blieb sie stehen und betrachtete das ganze Durcheinander um
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