Lesley Pearse
müssen.
Um halb eins war Matilda bereit zu gehen. Sie hatte nur wenige Sachen mitzunehmen, einen zweiten Umhang und einen Unterrock, den sie in eine Schürze gewickelt hatte, sowie zwei Shilling in ihrer Tasche. Sie hatte einen Topf Haferschleim gekocht und ein wenig gebratenen Speck, aber sie brachte ihr eigenes Essen kaum herunter. Die Teller und der Topf waren gespült, die Betten gemacht und der Flur gefegt. Der Anblick des leeren Blumenkorbs in einer Ecke erweckte Schuldgefühle in ihr.
Luke und George saßen auf der Bank und beobachteten ihren Vater beim Rasieren. Sie trugen beide die neuen Hemden und Schuhe, die er ihnen auf der Rosemary Lane gekauft hatte. Sie sahen ordentlich aus, auch wenn Matilda wusste, dass sie nicht lange sauber bleiben würden.
»Wirst du uns manchmal besuchen?«, fragte Luke in überraschend zittrigem Tonfall.
»Natürlich werde ich das«, versprach sie. »Bei jeder Möglichkeit, die sich bietet.«
»Ich werde deine Gutenachtgeschichten vermissen«, bekannte George mit Tränen in den Augen.
Matildas Kehle schnürte sich zu, sodass sie zunächst nichts erwidern konnte. Sie hatte nicht erwartet, dass die Kinder traurig sein würden. Sie drehte sich um und warf einen Blick in den gebrochenen Spiegel auf dem Kaminsims und band die Bänder des neuen Strohhutes zusammen, den ihr Vater ihr am Vortag geschenkt hatte, während sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Die Atmosphäre im Raum glich der einer Beerdigung. Lucas zog sich den Mantel an. »Wir sollten besser gehen, es ist ein langer Fußmarsch«, meinte er.
Matilda sah die Jungen noch einmal an. »Versprecht mir, dass ihr weiter zur Schule gehen werdet und keinen Unsinn macht«, bat sie Luke und George, während sie sich hinunterbeugte und sie küsste.
»Werden wir«, sagte Luke, der an ihr hing wie eine Klette.
Als Matilda das Haus verließ und George hinter sich weinen hörte, brach ihr beinahe das Herz. Sie wusste genau, dass die beiden in einer halben Stunde mit den anderen Bengeln im Hof raufen und sicher ihr Versprechen nicht halten würden, weiter zu Miss Agnew zu gehen oder keinen Unsinn zu machen. Traurig stellte sie sich vor, wie ihr Vater Abend für Abend in ein leeres, verschmutztes Heim zurückkehren musste.
Schweigsam ließen Vater und Tochter das heruntergekommene Viertel hinter sich, das sich an einem Sonntag kaum anders präsentierte als in der Woche. Zwar waren die Geschäfte geschlossen, aber es legte sich nicht wie in anderen Teilen Londons eine besinnliche Stille über die Straßen. Es war eine fürchterliche Umgebung. Matilda war dennoch hin und her gerissen zwischen Trauer und Vorfreude. Immerhin waren diese Straßen, so schmutzig sie auch waren, ihre Heimat. Hier wusste sie, wer sie war und was von ihr erwartet wurde, und man respektierte sie und ihren Vater. In Primrose Hill würde sie eine unwissende Fremde sein. Sie hoffte inzwischen fast, dass es sich die Milsons anders überlegt hatten.
Lucas bemühte sich sehr, den Spaziergang nicht mit dem letzten Weg zum Galgen zu vergleichen, obwohl er sich für ihn so darstellte. Zwar würde er am Nachmittag wieder nach Hause gehen dürfen und immer noch seine Söhne und seine Arbeit haben, doch Matilda würde vollkommen aus seinem Leben gerissen werden, sobald er sich von ihr verabschiedet hatte. Wenn Matilda ein besseres Leben haben sollte, musste es auch so sein: entweder die vollständige Trennung oder gar keine. Er hoffte, dass er Manns genug sein würde, sie gehen zu lassen, und sein Mut ihn nicht beim letzten Abschiedskuss verließ. Er hatte Nell bitter enttäuscht, er würde dies bei Matilda nicht wiederholen.
Als sie durch Camden Town in Richtung Regents Park liefen und die Gegend etwas freundlicher wurde, hob sich langsam ihre Stimmung, während sie die hübschen Sommerhäuser, feinen Villen und die blühenden Bäume betrachteten. »Es ist eine ganze Weile her, dass ich hier gewesen bin«, bemerkte Lucas gedankenverloren, nahm Matilda bei der Hand und fasste sie wie ein Gentleman unter. »Deine Mutter und ich sind oft hier spazieren gegangen, als wir gerade verheiratet waren. Wir haben uns immer vorgestellt, wir hätten auch so ein hübsches Häuschen.«
Matilda schaute ihren Vater vorsichtig von der Seite an. »Wusstest du eigentlich auf den ersten Blick, dass du sie liebst?«
Matilda fiel es schwer, die Liebe und die Vorgänge des Werbens zu begreifen. Bereits als kleines Mädchen hatte sie im Finders Court mehr Brutalität
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