Lesley Pearse
sich, was sie mit dem Mädchen bloß tun sollte, wenn es ihm erst einmal besser ging. Sie brauchte keine neuen Kellnerinnen mehr.
Doch Cissys letzte Worte vor ihrem Tod nagten an ihr. Ihre Freundin hatte gewollt, dass sie weitere Mädchen aus Notsituationen rettete. Fern nur gesund zu pflegen und sie dann sich selbst zu überlassen, wäre eindeutig zu wenig.
Am Morgen ging es Fern schon viel besser. Sie hatte kein Fieber mehr.
»Die Menge Blut, die sie verliert, ist ganz normal«, versicherte Dolores ihr, »ich erwarte eigentlich keine weiteren Komplikationen.«
Sicherheitshalber ließ Matilda das Mädchen von Sidney in ihre Wohnung tragen. Viel zu viele Leute hatten es im Gastraum ohnmächtig werden sehen, und es würde sicherlich nicht lange dauern, bis Big Gee davon hörte.
»Wenn jemand nach ihr fragt, dann erzähle ihnen, dass sie sich hier für ein paar Minuten ausgeruht hat und wir sie dann fortgeschickt haben«, trug sie Sidney auf. »Keiner darf wissen, dass sie noch hier ist.«
Sidney sah besorgt aus. »Ich habe von Big Gee gehört. Mit ihm ist nicht zu spaßen, Matty.«
»Möchtest du, dass Fern in ihr altes Leben zurückkehren muss?«
»Nein, natürlich nicht!«, erklärte er und sah sie schuldbewusst an.
»Das hätte ich auch nicht gedacht«, sie lächelte. »Du hattest immer schon ein weiches Herz. Wir müssen sie also beschützen, nicht wahr?«
Matilda ging später zu Fern und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Erzähl mir doch, wie du entkommen bist«, bat sie das Mädchen.
So wie Fern dalag und sie mit großen Augen ängstlich anblickte, sah sie noch jünger als vierzehn Jahre aus.
»Mrs. Honeymead hat uns immer alle eingesperrt«, begann sie. »Sie hat uns nur aus dem Zimmer gelassen, wenn sie uns zu einem Mann geschickt hat. Vorgestern brachte sie mich gerade zurück in mein Zimmer, als Big Gee vorbeikam. Er war sehr böse wegen irgendetwas, und sie hat mich in einen Raum geschubst und ist mit ihm fortgegangen. Ich vermute, sie war so aufgeregt, dass sie vergessen hat, mich einzuschließen. Ich habe die Chance ergriffen und bin gerannt. Ich kannte mich ja in dem Haus nicht aus und bin, nur mit einem Nachthemd bekleidet, in die Küche gelaufen, und da habe ich Anna dann kennen gelernt. Sie saß auf den Stufen und ruhte sich aus. Jedenfalls habe ich ihr von meinem Plan zu fliehen erzählt, und sie meinte, ohne Kleidung käme ich nicht weit. Also nahm sie mich mit in ihr Zimmer, wo sie mich den ganzen Tag und die Nacht über versteckte. Als ich ihr von meiner Schwangerschaft erzählte, riet sie mir, es loszuwerden, ansonsten würde ich noch mehr Unglück auf meine Schultern laden. Ich kannte nur die Methode, die Mrs. Honeymead immer bei den anderen Mädchen anwendet.«
Matildas Magen drehte sich um, als sie sich vorstellte, wie ein so junges Mädchen sich selbst etwas so Barbarisches antun konnte.
»Ich dachte, das Baby würde sofort herauskommen«, fuhr Fern in sachlichem Tonfall fort. »Es hat ein bisschen wehgetan, aber das war alles. Ich glaube, Anna hatte Angst, mich noch länger zu verstecken. Sie gab mir Stiefel und einen Mantel. ›Geh ins London Lil’s‹, sagte sie, ›und warte vor der Tür auf mich. Ich werde etwas Geld besorgen und dich wieder treffen.‹ Es fing an zu regnen, während ich auf sie wartete, und ich habe mich nicht so gut gefühlt, aber dann erschien sie, und so bin ich hierher gekommen.«
Plötzlich verstand Matilda. Anna hatte sicherlich gehört, dass sie Mitleid mit Straßenmädchen hatte. Vielleicht hatte sie sogar gehofft, sie würde das wartende Mädchen bemerken und aufnehmen. Anna hatte eindeutig ein gutes Herz. Sie war gekommen, um nach ihrer neuen Freundin zu sehen. Wer konnte es ihr verübeln, dass sie das Weite gesucht hatte, sobald sie Fern in sicheren Händen gewähnt hatte?
Später ließ sie Dolores mit Fern reden, und durch sie erfuhr Matilda, dass man sie täglich zu Sex mit über einem Dutzend Männern gezwungen hatte. Mrs. Honeymead hatte sie ihren »Gentlemen« als »Wildkatze« angepriesen und behauptet, sie sei so unkontrollierbar leidenschaftlich, dass sie angekettet werden müsste. Fern war angewiesen worden, sich zu wehren, zu spucken und zu kratzen, und wenn sie keine gute »Aufführung« gab, verprügelte man sie und ließ sie hungern.
Solche unglaubliche Verrohung machte Matilda ganz krank. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, welche Männer einen so schrecklichen Zeitvertreib genießen konnten. Aber Dolores erklärte
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