Lesley Pearse
kaum wiedererkennen.
Giles kam die Treppen herunter, als Matilda gerade Tabitha abtrocknete, die sie in einer Küchenwanne gebadet hatte. Noch nie hatte sie ihn so zerzaust gesehen. Sein Hemd war zerknittert und sein Kinn voller dunkler Stoppeln. Nicht einmal gekämmt hatte er sich. Er sah überhaupt nicht wie ein Pfarrer aus.
»Wenn Sie mir einen Moment Zeit geben, bereite ich Ihnen etwas heißes Wasser«, meinte sie. »Ich vermute, Sie sind zu groß, um in der Küchenwanne zu baden!«
Tabitha fand diese Vorstellung sehr lustig und brach in schallendes Gelächter aus. Auch Giles musste lachen. Sofort war Matilda erleichtert. Giles hatte gute Witze immer gemocht, und wenn er seinen Humor wiedergefunden hatte, würde es sicher bald bergauf gehen.
»Waschen und Rasieren sind momentan meine kleinsten Probleme«, entgegnete er. »Ich dachte, ich werde mich mal umsehen und frisches Brot für das Frühstück einkaufen.«
»Lassen Sie mich gehen«, schlug Matilda begierig vor. Sie brannte darauf, die Stadt zu erkunden. »Ich könnte Tabitha schnell anziehen und sie mitnehmen.«
Giles runzelte die Stirn. »Ich sollte besser erst einmal herausfinden, wie sicher diese Gegend ist.«
»Denken Sie, dass mich draußen Wilde mit Pfeil und Bogen erwarten?«, stichelte Matilda amüsiert.
Er lächelte. »Habe ich dir nicht von den Kannibalen und wilden Tieren erzählt? Wie unaufmerksam von mir, Matty«, konterte er grinsend und klang auf einmal wieder fast wie früher. »Vielleicht sollten wir alle zusammen gehen. In der Gruppe ist man sicherer!«
»Dann sollten Sie sich vorher ein wenig auf Vordermann bringen«, sagte sie schelmisch und vergaß für einen Moment, mit wem sie sprach. »Es wäre nicht gut, wenn man den neuen Pfarrer so sehen würde.«
Er lächelte und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Was würde ich bloß ohne dich tun? Immer die Stimme der Vernunft.«
»Es ist ein wunderschöner Ort, Mama!«, rief Tabitha aufgeregt, als sie eine Stunde später frühstückten. »Wir haben das Meer gesehen und sind in ein Geschäft gegangen. Viele Leute haben vor Papa den Hut gezogen.«
Matilda blickte vorsichtig zu Lily hinüber und versuchte, ihre Stimmung einzuschätzen. Einige Sekunden nachdem sie von ihrem Erkundungsspaziergang wiedergekehrt waren, war ihre Herrin vollständig angekleidet die Treppe heruntergekommen. Sie hatte sich allerdings nur relativ schweigsam ins Wohnzimmer gesetzt.
Aggie hatte zum Frühstück immer Porridge zubereitet, aber Matilda war sich nicht sicher gewesen, ob das, was der Verkäufer als Weizenmehl bezeichnet hatte, auch Weizenmehl war, und außerdem hätte die Zubereitung zu lange gedauert. Stattdessen hatte sie Eier, ein paar Würstchen und eine Auswahl frischer Früchte gekauft.
»Du hast dich sehr gut um uns gekümmert, Matty«, erklärte Lily nach ein paar Minuten.
Matilda bemerkte, dass sie ihr gesamtes Rührei und mehrere Würstchen gegessen hatte und jetzt begierig einen Pfirsich in die Hand nahm. Matilda hatte bis zum vergangenen Sommer nicht einmal gewusst, dass eine solche Frucht existierte. Giles’ Brüder waren aus Bath zu Besuch gewesen und hatten ein paar mitgebracht, die sie in einem geschützten Teil des Gartens gezüchtet hatten. Sie hatte sich einen Pfirsich mit Tabitha geteilt und war davon überzeugt gewesen, dass dies das Himmlischste war, was sie jemals gekostet hatte. Aber die amerikanischen Pfirsiche sahen sogar noch besser aus. Sie waren groß wie Orangen und hatten sehr weiches Fruchtfleisch. Lily schnitt ihren Pfirsich vorsichtig auf, entfernte den Stein und probierte die Frucht.
»Hm«, murmelte sie und schenkte ihnen zum ersten Mal seit Wochen ein richtiges Lächeln. »Das schmeckt wundervoll.«
Dieser Pfirsich war das Erste, das Lily in Amerika gefiel.
Um die Mittagszeit begann sie, sich wieder wie früher zu verhalten. Sie strich mit den Fingern über die Regale in der Küche auf der Suche nach Staub, packte ihre spitzenbesetzten Stuhlkissen aus und sprach davon, Pfirsiche für den Winter einzukochen. Matilda war gerade dabei, im oberen Stockwerk die Wäscheschränke mit Papier auszulegen, als es an der Tür läutete.
Da Lily und Giles im Wohnzimmer waren, um Bilder aufzuhängen, und ihr bereits gesagt hatten, dass vielleicht Gäste kommen würden, lief Matilda nicht zur Haustür, sondern wartete darauf, zum Teekochen heruntergerufen zu werden. Sie hörte eine dröhnende männliche Stimme und eine ruhigere weibliche, und weil sie vermutete, es
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