Lesley Pearse
kümmert. Ich will einmal Ärztin werden und kranke Leute wieder gesund machen.«
Matilda lächelte. Dr. Kupicha war Anfang der Woche zum Essen gekommen. Er hatte Tabitha gezeigt, wie sein Stethoskop funktionierte – vermutlich war die Kleine aus diesem Grund auf diesen Berufswunsch gekommen.
»Das ist ein sehr guter Gedanke, aber Frauen können nicht Ärztinnen werden.«
»Warum nicht?«, hakte Tabitha ehrlich entrüstet nach. »Frauen sind viel freundlicher als Männer. Sie könnten es viel besser.«
Matilda fand, dass sie eigentlich Recht hatte. »Weißt du, Männer bestimmen die Welt und regeln im Grunde alles«, erwiderte sie und dachte an Darius Kirkbright, der Frauen für geistlos hielt. »Aber du hast Glück, einen Vater zu haben, der daran glaubt, dass Frauen genauso intelligent sind wie Männer. Ich bin sicher, wenn du groß bist, darfst du tun, was dir Freude macht.« Ein paar Minuten später kam Giles herein. Sein Gesicht war vom kalten Wind gerötet, und ein Funkeln in seinen Augen verriet seine Aufregung. Matilda nahm ihm Mantel und Hut ab und legte noch etwas Kohle im Ofen nach.
»Ich werde Ihnen einen Tee kochen«, entschied sie. »Möchten Sie auch von Tabithas Kuchen probieren?«
Giles beachtete ihre Worte nicht und zog sie ins Wohnzimmer. »Wir gehen morgen«, flüsterte er. »Wir haben zehn Kinder zwischen drei und sechs Jahren gefunden und ein Baby, das bei einer noch sehr jungen Mutter zurückgelassen wurde. Diese Frau hat uns geholfen, sie zu finden, denn sie lebt mit ihnen zusammen in einem Keller.«
»Morgen!« Matildas Herz machte einen Sprung. »Aber morgen habe ich meinen freien Nachmittag.«
»Du kannst stattdessen am Sonntag freihaben«, entgegnete er, ohne sie auch nur anzuschauen. »Diesmal solltest du eine Nacht bei ihnen bleiben, denn das Baby muss gefüttert werden. Ich werde Mrs. Milson sagen, dass ich dich im Heim gelassen habe.«
Matilda war plötzlich wütend auf ihn. Er war aufgeregt wie ein Schuljunge und hatte nicht einen Moment bedacht, dass Lily immer noch böse auf Matilda war. Wenn sie über Nacht ausbliebe, würde sie ihre Herrin womöglich noch mehr verärgern. Dass sie sich aber an ihrem freien Tag etwas vorgenommen haben könnte, kam Giles offenbar gar nicht in den Sinn.
Sie schloss für einen Moment die Augen und dachte an Flynn. Matilda konnte seine blauen Augen sehen und sich vorstellen, wie er frierend mit zusammengezogenen Schultern auf sie wartete. Wenn sie nicht zum Treffpunkt kam, würde er glauben, sie hätte es sich anders überlegt.
Doch so lebhaft dieses Bild auch war und so schrecklich die Vorstellung, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde, hatte das Bild eines kleinen Babys in einem dunklen, feuchten Keller eine stärkere Wirkung auf sie.
»Was ist mit dir, Matty?«, fragte Giles. Er kam zu ihr herüber und nahm ihre Hände. »Möchtest du nicht mitkommen?«
Plötzlich schämte Matilda sich. Wie konnte sie erwarten, dass Giles an ihre Bedürfnisse dachte, wenn er sich nicht einmal um seine eigenen kümmerte? Lediglich das Wohlbefinden und die Gesundheit dieser Kinder waren ihm wichtig.
»Ich bin nur ein bisschen überrascht, dass es jetzt so schnell geht«, wich sie aus und zwang sich zu lächeln. »Natürlich möchte ich Sie begleiten.«
8. K APITEL
G iles und Matilda blieben in der Cat Alley stehen und betrachteten das Gebäude, in dem im Sommer ein Feuer ausgebrochen war. Die oberen Stockwerke und das Dach waren völlig verschwunden, doch in Five Points galt ein solches Haus keineswegs als unbewohnbar.
Es war ein eiskalter Tag, und als sie vorsichtig über die verrotteten Dielen in den schmalen Hausflur traten, bemerkten sie, wie der Wind durch riesige Löcher in den Wänden ins Haus zog. Die Bewohner schienen noch zu schlafen, und sah man von lautem Schnarchen ab, war das einzige weitere Geräusch das Weinen eines Säuglings, das aus dem Keller nach oben drang.
»Hier geht es nach unten«, erklärte Giles und blieb vor der Treppe stehen, um seine Lampe anzuzünden. »Ich muss dich warnen, Matty: Was du gleich siehst, ist noch schlimmer als der andere Keller.«
Plötzlich wurde Matilda bewusst, dass Giles ihr nicht von allen seinen Aktivitäten berichtete. Um sich in Five Points so gut auszukennen, musste er täglich hierher gekommen sein und Informationen gesammelt haben. Sein Mut überraschte sie. Sein geistlicher Habitus mochte ihn an bestimmten Orten schützen, doch sicher nicht in diesem Slum. Sie hatte ihn immer für
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