Lesley Pearse
und seinem Beispiel folgten. Seinetwegen hatten sie den im Heim gültigen Hygienestandard akzeptiert, und keines der Kinder schien noch fortlaufen zu wollen.
Giles hatte Miss Rowbottom versprochen, dass die Kirche weiteres Geld aufbringen würde, damit das Heim eigenes Vieh kaufen und Gemüse anbauen konnte. Auf diese Weise würde es sich bald selbst versorgen können und unabhängig sein. Doch Giles’ größtes Anliegen war, vor dem Wintereinbruch weitere Kinder nach New Jersey zu bringen. Obwohl Matilda hiermit vollkommen einverstanden war, klangen Flynns Worte über die Menschen in Five Points in ihr nach. Sie fürchtete, dass sich ihr zweiter Vorstoß in die Slums schwieriger gestalten würde als der erste. Aber sie konnte Giles ihre Bedenken nicht erklären, ohne gleichzeitig von Flynn zu erzählen.
Von Montag bis Donnerstag saß Matilda auf heißen Kohlen. Würde Giles plötzlich an ihrem freien Freitag nach Five Points gehen wollen, um weitere Waisenkinder zu suchen? Wie konnte sie Flynn dann wissen lassen, dass es ihr unmöglich war, ihn zu treffen?
Lily hatte in den vergangenen Tagen kaum mit ihr gesprochen, sondern sich ihr gegenüber misstrauisch verhalten. Zu allem Überfluss kam am Donnerstag ein Brief von Dolly, in dem sie berichtete, dass Lucas von zwei Herumtreibern angegriffen worden war und sich gerade von seinen Verletzungen erholte. Außerdem hatten sie soeben erfahren, dass Luke wegen Betrugs im Gefängnis saß und höchstwahrscheinlich nach Australien deportiert werden würde. Die einzige gute Nachricht in Dollys Brief war, dass James, Matildas älterer Bruder, nach England zurückgekehrt war und seinen Vater besucht hatte.
Obwohl Dolly ihrer Stieftochter versicherte, sich keine Sorgen machen zu müssen, brachten die Neuigkeiten Matilda durcheinander. Zum ersten Mal, seit sie sich nach der Hochzeit ihres Vaters von ihm und Dolly verabschiedet hatte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Sie hatte sich an den Rat ihres Vaters gehalten, niemals zurückzuschauen, doch dies schützte sie nicht davor, ihn zu vermissen und sehr oft an ihn zu denken. Die Post brauchte so lange von England nach Amerika, und dies unterstrich jedes Mal von neuem, wie weit ihre Familie von ihr entfernt war. Sie würde Dolly gern von Flynn erzählen und sie um ihren Rat bitten. Matilda fühlte sich furchtbar einsam.
Tabitha war ihr einziger Trost. Am Donnerstagnachmittag waren Lily und Giles außer Haus und ließen Matilda und Tabby allein. Es war draußen eiskalt, sodass sie in der Küche blieben und zusammen Kuchen backten.
»Erzähl mir von deiner Zeit als Blumenmädchen«, bat Tabitha später am Nachmittag, nachdem der Kuchen fertig, die Kerzen angezündet waren und sie in einem Stuhl vor dem Ofen saßen.
Obwohl Tabitha in einer Woche erst vier Jahre alt werden würde, war sie ein nachdenkliches und bedachtes kleines Mädchen. Man konnte sie zwar nicht als hübsch bezeichnen, aber mit ihren großen dunklen Augen und ihrer freundlichen Art war sie allen Freunden des Hauses ans Herz gewachsen. Sie wurde nicht müde, Fragen zu stellen, und vergaß nie, was man ihr erzählt hatte. Vor etwa einem Monat hatte sie Matilda davon sprechen hören, dass sie früher Blumen verkauft hatte, und offensichtlich hatte sie auf eine Gelegenheit gewartet, sie dazu genauer zu befragen.
»Morgens bin ich immer sehr früh aufgestanden und zum Markt gegangen, um Blumen zu kaufen«, erklärte Matilda. »Dann habe ich sie zu kleinen Sträußen gebunden und sie in den Straßen weiterverkauft.«
»Das ist eine schöne Arbeit«, fand Tabitha. »Darf ich so etwas auch, wenn ich einmal groß bin?«
»Es war nicht sehr schön, wenn es draußen fror oder in Strömen regnete«, Matilda lachte. »Außerdem wirst du etwas viel Besseres machen können, denn du bist clever.«
»Das bist du doch auch.« Tabitha schaute Matilda ins Gesicht und rümpfte die Nase. »Du kannst rechnen, kochen, und du weißt einfach alles, genau wie Papa. Warum hast du dann Blumen verkauft?«
Es war rührend, wie das Kind an sie glaubte, und Matilda kamen die Tränen. »Ich war sehr arm, und es ist schwer, einen Job zu finden, wenn du keine schöne Kleidung hast. Wenn du fünf Jahre bist, wirst du in eine richtige Schule gehen und Dinge lernen, über die ich nichts weiß. Außerdem wirst du später einmal einen reichen, gut aussehenden Gentleman heiraten, der sich um dich kümmern wird. Du brauchst nicht zu arbeiten.«
»Ich will nicht, dass sich jemand um mich
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