Lesley Pearse
einen ganz besonderen Mann gehalten und ihn bewundert, aber bislang war ihr noch nicht klar gewesen, dass er auch mutig war.
Giles ging vorsichtig voran, und Matilda folgte ihm mit angehobenen Röcken.
»Cissy?«, rief Giles, als er den Boden erreicht hatte. »Ich bins, Reverend Milson, meine Freundin Matty ist bei mir.«
Matildas Augen weiteten sich vor Schreck, als sie unten angelangt war. Sie hatte sich eingeredet, dass sie nach ihrem Besuch in Rat’s Castle nichts mehr schockieren könnte, aber auf dem Boden vor ihr wimmelte es von Ratten, die sich über etwas hermachten, was nur ein totes Tier oder sogar ein Säugling sein konnte. Wasser lief in Strömen die Wände herunter und sammelte sich auf dem Boden, der fast vollständig mit Schimmel bedeckt war. Die Kinder saßen alle im hinteren Teil des Kellers um ein älteres Mädchen herum, und ihre Arme und Beine waren wie Zweige ineinander verschlungen. Das Mädchen hielt ein weinendes Baby auf dem Arm und gab einem zweiten die Brust.
Als Matilda sah, dass dieses Mädchen noch jünger war als sie selbst, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Sie sind also wirklich gekommen«, stellte Cissy leise fest. »Wenn ich sicher gewesen wäre, hätte ich ihr nicht meine Milch gegeben.«
»Welches der Kinder ist deines?«, fragte Matilda.
»Dieses hier.« Sie neigte den Kopf dem weinenden Kind an ihrer Schulter zu. »Ich hoffe, dass noch genug Milch für ihn übrig geblieben ist.«
Die Vorstellung, dass sie ein Waisenkind auf Kosten ihres eigenen nährte, rührte Matilda zutiefst. »Wie heißen sie?«
»Pearl und Peter«, antwortete sie. »Pearls Mutter war meine Freundin. Sie war eine wirkliche Perle, als sie noch lebte. Wir haben alles miteinander geteilt, doch sie ist bei der Geburt gestorben. Deshalb habe ich ihre Tochter Pearl genannt. Ihr werdet euch doch an meiner Stelle gut um sie kümmern, nicht wahr? Ich würde sie selbst gern behalten, aber es ist schon schwierig genug, ein Kind durchzufüttern.«
Matilda hatte noch nie etwas so Rührendes gehört. Obwohl es sehr dunkel war, konnte sie erkennen, dass die beiden Babys in Decken gehüllt waren. Dem vitalen Saugen des Kindes an Cissys Brust und den wütenden Schreien des anderen nach zu urteilen, waren beide Kinder stark genug, den Winter zu überleben, wenn ihnen geholfen werden würde. Sie drehte sich zu ihrem Herrn um und berührte ihn am Arm. »Können wir Cissy und ihr Baby nicht auch mitnehmen?«, bat sie ihn flüsternd. »Sie könnte im Heim helfen und sich um beide Säuglinge kümmern.«
»Das ist nicht möglich«, gab er leise zurück. »Die Heimleiter haben bestimmt, dass keiner über zehn Jahren aufgenommen werden soll. Aber wir könnten ihr Kleines nehmen, wenn sie zustimmt.«
Matilda schritt auf das Mädchen zu. »Wir könnten dein Baby auch mitnehmen, wenn du das möchtest«, erklärte sie freundlich.
»Mein Baby?« Cissys Stimme wurde vor Entrüstung laut. »Glauben Sie, ich bin schon so tief gesunken, dass ich meinen Sohn fortgebe? Er gehört zu mir, und wenn ich auch arm bin, liebe ich ihn von ganzem Herzen. Nun verschwinden Sie von hier! Ich hätte wissen müssen, dass ich einem verdammten Pfarrer nicht vertrauen kann. Er sagte, er wollte nur Waisenkinder haben.«
Das Licht der Laterne in Giles’ Hand zitterte und zeigte, wie tief dieser verbale Angriff ihn erschütterte.
»Du kannst Reverend Milson vertrauen. Er würde ein Kind nicht von seiner Mutter trennen, wenn sie nicht dazu bereit wäre«, erklärte Matilda beruhigend und wünschte sich, den Mut zu haben, an den Ratten vorbeizugehen und näher an das Mädchen heranzutreten. »Es war nur ein Vorschlag, weil wir glaubten, dir damit helfen zu können.«
»Das stimmt, Cissy«, versicherte Giles. »Eigentlich suchen wir nur Waisenkinder. Wenn du also die anderen Kinder weckst und uns Pearl gibst, verschwinden wir mit ihnen.«
Matilda schaute zu den Ratten hinab und schauderte. »Wie lange wird es dauern, bis sich die Ratten das Baby holen, Sir, wenn wir es hier lassen?«, fragte sie Giles leise. Als er nicht antwortete, ergriff sie seinen Arm. »Hören Sie, Sir, mir ist klar, dass wir nichts über sie wissen. Aber sie hat ein gutes Herz, ansonsten würde sie das fremde Baby nicht versorgen. Bitte, Sir! Lassen Sie sie nicht hier. Geben Sie ihr und Peter auch eine Chance!«
Er drehte sich zu Matilda um und sah sie gequält an, denn auch er wollte Cissy gern helfen.
»Bitte«, wiederholte Matilda. »Sie können mir die Schuld
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