Letale Dosis
lösen. Nur die wenigsten sind bereit einzusehen, daß Gott nicht immer und überall sein kann, sondern er Möglichkeiten hier auf der Erde geschaffen hat, damit den Kranken geholfen werden kann. Es gibt sogar viele, die körperlich krank sind und sich weigern, einen Arzt aufzusuchen, die meinen, daß es ausreiche, ein paar Brüder kommen und die Hände auflegen zu lassen, und damit wären alle Schmerzen und Krankheiten beseitigt. Es gibt schon ein paar seltsame Typen in der Kirche. Doch es ist sehr, sehr schwer, die Leute davon zu überzeugen, daß Ärzte, egal welcher Fachrichtung, auch einen Zweck auf dieser Erde erfüllen. Und es ist vor allem schwer, gegen antiquierte Vorstellungen anzukämpfen.«
»Und warum gehören Sie dann dieser Kirche an? Ich meine …«
»Das Evangelium ist wahr, das Problem sind die Menschen und was sie daraus machen. Das Problem ist Heuchelei und Lüge. Es gibt viele Probleme, zu viele, um sie alle aufzuzählen. Lassen Sie es mich so formulieren«, sagte sie und sah die Kommissarin mit einem unergründlichen Lächeln an, bevor sie fortfuhr: »In der Kirche gibt es einen liberalen Zweig, einen konservativen und einen ultrakonservativen. Ich gehöre dem liberalen an.«
Julia Durant nahm einen letzten Zug an der Zigarette, ließ sie auf den Boden fallen und drückte sie mit der Schuhspitze aus.
»Und welchem gehörte Rosenzweig an?«
Wieder lächelte Sabine Reich, sie ließ einen Augenblick verstreichen,bevor sie antwortete: »Eher dem konservativen. Vielleicht in einigen Bereichen auch dem ultrakonservativen. Es hing wohl ein wenig von seiner Tagesform ab.«
»Und Schönau?«
»Ultra«, sagte sie immer noch lächelnd.
»Frau Reich, halten Sie es für möglich, daß Herr Rosenzweig Selbstmord begangen hat?«
Sabine Reich überlegte einen Moment, verzog kurz die Mundwinkel, sagte kopfschüttelnd: »Nein, er war einfach nicht der Typ dafür. Er war sehr ausgeglichen und ruhte in sich selbst, wie es so schön heißt. Für mich ist Selbstmord so ziemlich ausgeschlossen. Wodurch sich für mich natürlich wiederum die Frage stellt, wer dann für seinen Tod verantwortlich ist. Diese Frage beschäftigt mich, seit ich von seinem Ableben erfahren habe.«
»Seine Frau?«
»Nein«, sagte Sabine Reich energisch. »Sie ist eine stille, ergebene Ehefrau. So, wie sich das für ein gutes weibliches Mitglied der Kirche gehört.«
»Was heißt das, still und ergeben? Unterwürfig?«
»Die Frau soll dem Manne untertan sein, so heißt es jedenfalls. Tja, sie hat es wohl nie anders gelernt, schließlich gehört ihre Familie schon seit vier oder fünf Generationen der Kirche an. Wenn man so erzogen wird, was kann man da schon anderes erwarten? Aber sie ist eine liebe, herzensgute Frau. Das sage ich Ihnen als ihre Therapeutin und weil ich sie auch in der Kirche nie anders erlebt habe. Aber was sich genau innerhalb der Familie abgespielt hat, darüber kann ich Ihnen natürlich nichts sagen.«
»Und die Söhne?«
»Joseph und Aaron? Im Leben nicht. Sie kommen beide nach der Mutter, sie sind sehr stille, fast verschlossene Jungs, die … ja, sie sind so still, daß man sie kaum bemerkt. Nein, keiner von beiden wäre dazu fähig. Ich hatte manchmal den Eindruck, als ob sie ihrenVater fast abgöttisch geliebt hätten. Und er sie. Und außerdem, welches Motiv sollten Frau Rosenzweig oder ihre Söhne gehabt haben? Ich glaube, Sie werden den Täter außerhalb des Hauses suchen müssen. Fragen Sie mich aber um Himmels willen nicht, wo.«
An den Bäumen angelangt, die die Grenze des Grundstücks markierten, machten sie kehrt und gingen zum Haus zurück.
»Gibt es noch andere Mitglieder der Kirche außer Frau Rosenzweig, die bei Ihnen in Behandlung sind?«
»Natürlich gibt es die. Auch wenn die Schamgrenze bei den meisten sehr hoch liegt. Bisweilen glaube ich, sie sind der Meinung, etwas Ungesetzliches, Abnormales zu tun, wenn sie zu mir kommen, um sich mit ihren Problemen und Sorgen an mich zu wenden. Doch wenn sie einmal diese Hemmschwelle überwunden haben, dann merken sie sehr schnell, daß es weder ungesetzlich noch abnormal noch in irgendeiner Weise unvereinbar mit den Grundsätzen der Kirche ist. Aber es ist zu neunundneunzig Prozent die jüngere Generation bis etwa vierzig, die meine Hilfe in Anspruch nimmt. An die Alten ist kaum ranzukommen. Aber das ist nicht mein Problem. Ein sechzig- oder siebzigjähriger Mensch ist ohnehin kaum noch therapierbar.«
»Gut, Frau Reich, das soll’s für jetzt
Weitere Kostenlose Bücher