Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Furcht gleichermaßen weiß wie vor Kälte.
»Das sind wir alle«, sagte Lettie. »Noah, haben wir eine Chance zu entkommen?«
Noah biss sich auf die Lippe. »Ich hatte gehofft, wir würden mehr Vorsprung kriegen.«
»Ja, ich auch. Ich könnte den Wind bitten, sie zurück ans Ufer zu blasen.«
Noah schüttelte den Kopf. »Der Wind kann sie nicht aufhalten. Die haben Schiffsschrauben und Motoren und riesige Haufen Kohle als Futter für die Dampfmaschine.«
Lettie wusste, was das bedeutete: Es gab kein Entrinnen. Sie brauchten einen Plan, und zwar auf der Stelle.
»Was soll ich nur tun?«, raunte sie.
Lettie versuchte den Zug des Windes zu spüren, aber er kitzelte sie nur an der Nase. Oder vielleicht war auch nur eine Erkältung im Anmarsch. Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren, aber vergeblich. Es war, als hätten sich tausend Nieser in ihrer Nase aufgestaut. Und je drängender der Niesreiz wurde, desto mehr nahm in Letties Kopf eine Idee Gestalt an.
Lettie Peppercorn, das ist doch total verrückt!
Aber die Idee wollte einfach nicht weichen.
Vielleicht. Nur vielleicht …
Sie kramte in ihren Taschen nach allem, was sie finden konnte: getrocknete Gewürze, alte Koriander-Körnchen, Chili … Und dann ertasteten ihre Finger etwas Rundes, Hartes: ein einzelnes Pfefferkorn.
Lettie lächelte. Ja, das müsste gehen. Es war vielleicht ein wahnsinniger Plan, aber er war einen Versuch wert.
Jetzt, wo sie das Pfefferkorn hatte, brauchte sie nur noch eine einzige Sache.
»Blüstav!«, rief sie zu dem Alchemisten hoch und hielt dann inne. »Ich würde Sie ja gern höflicher bitten, aber dazu ist keine Zeit. Geben Sie mir den Äther!«
»Ein Alchemist gibt seine Substanzen niemals aus der Hand!«, schnaubte Blüstav.
»Ich dachte mir, dass Sie das sagen würden.« Lettie gab Noah lächelnd ein Zeichen. Gemeinsam griffen sie nach dem Seil, mit dem Blüstav festgemacht war, und begannen ihn herunterzuziehen. Der Alchemist wand und wehrte sich, konnte aber nicht verhindern, dass Lettie ihm die Phiole aus der Tasche zog. Noah ließ das Seil wieder los, und Blüstav schoss nach oben, wo er wie ein schwimmender Korken auf und ab wippte.
»Danke«, sagte Lettie und schüttelte das Ätherfläschchen. Viel war nicht mehr darin, aber es würde hoffentlich reichen. Lettie schraubte den Deckel ab.
»Bist du sicher, dass du weißt, was du da machst?«, fragte Noah.
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich mach’s trotzdem.«
Sie streckte die Zunge raus und ließ einen Tropfen Äther aus der Pipette darauf fallen. Es war, als würde man den Winter schlucken. Letties Speiseröhre wurde taub, die Wärme wich aus ihrem Körper.
»Nicht, Lettie!«
»Was tust du da?«, brüllte Blüstav von oben. »Wenn du meinen letzten Äther verbrauchst, beginne ich zu tauen! Dann ist meine Schneewolke kaputt! Schon die kleinste Temperaturschwankung könnte katastrophal sein. Einmal hat sie sich in den Tropen nur ganz leicht aufgewärmt. Das gab eine Woche lang schreckliche Stürme!«
Lettie ignorierte ihn und trank einen zweiten Tropfen. Ihr Herz pochte so wild, als wollte es ihr aus der Brust springen. Ihre Knie zitterten, ihre Zähne klapperten. Zwischen ihren Zehen begannen sich Eiskrusten zu bilden.
»Die Hälfte hätten wir«, murmelte sie.
Der dritte Tropfen. Winzige Eiszapfen überzogen Letties Augenbrauen und wuchsen ihr vor die Augen.
»Jetzt nur noch einen …«
»Nein!«, schrie Noah. »Wenn du noch einen Tropfen trinkst, wirst du nie wieder warm werden!«
»Mach keinen Unsinn, du Gör!«, rief Blüstav. »Noch nie hat jemand so viel Äther genommen.«
Noah packte sie bei der Schulter und versuchte ihr die Flasche zu entreißen. Aber dann schrie er auf, als wäre er von einem Insekt gestochen worden: Lettie war schon dabei, einzufrieren.
Doch das reichte nicht. Sie musste noch kälter werden, noch kälter als Blüstav.
»S-s-sorg nur dafür, d-d-dass eine Flasche h-h-heißes Wasser da ist, w-w-wenn ich wieder z-z-zurückkomme«, stammelte sie.
Sie drückte die Pipette zusammen, und der vierte Tropfen fiel auf ihre Zunge.
Es war das schlimmste Gefühl, das sie je erlebt hatte. Ihre Knochen klirrten wie Glas. Ihr Blut wurde so dickflüssig, dass es kaum noch durch die Adern fließen konnte. Kein einziger Hauch von Wärme befand sich mehr in ihrem Körper, alles war hinausgepresst worden. Und jetzt war Lettie ganz im Griff der eisigen, eisigen, eisigen Kälte gefangen.
Sie ließ die beinahe leere
Weitere Kostenlose Bücher