Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Blutkübel war komplett zugefroren. Letties eisige Nieser hatten es in einen Eisberg verwandelt, in dem das Walfängerschiff nun unrettbar gefangen war. Dem Walross hatte es die Perücke vom Kopf geweht, der Glotzerin die Brille von der Nase. Nun saßen die Gläser ganz schräg auf ihrem Gesicht. Beide Frauen blinzelten ungläubig. Die Blutkübel lag mit Schlagseite in einen Eisblock eingebettet, der beinahe bis zum Deck hinaufreichte.
»Voller Schub zurück!«, brüllte Käpt’n McNulty. »Los, macht schon!«
Die Schornsteine spuckten Rauch, die Schiffsschrauben ächzten. Das Eis knackte und knirschte, aber die Blutkübel steckte bombenfest.
Lettie lachte. Es hatte tatsächlich funktioniert! Jetzt würden die Walfänger sich mit den Harpunen aus dem Eis freihacken müssen. Und das mochte Tage dauern. Tage, in denen sie nicht der Leuthas Holz hinterherhetzen konnten. Jetzt konnte Lettie endlich wieder zu Noah und einer riesigen dampfenden Tasse Tee zurückkehren.
Sie wandte sich ab und begann sich langsam wieder auf das kleine Holzboot in der Ferne zuzubewegen.
6. Kapitel
Noah bringt eine Flammenfrucht hervor
Auf dem Rückweg zur Leuthas Holz gab es drei Dinge, die Lettie schlechte Laune bereiteten.
Erstens: Noah war nicht da, um sie zu loben und Beifall zu klatschen.
Zweitens: Auch nicht, um ihr an Bord zu helfen.
Drittens: Blüstav sagte nicht einmal Danke schön.
Lettie Peppercorn, warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht?
Also kletterte sie aus eigener Kraft aufs Boot und stampfte übers Deck, wobei sie ihre Füße bei jedem Schritt loseisen musste.
»Ich brauche eine Wärmflasche, eine Decke und eine Tasse Tee!«, rief sie und stieß die Tür zur winzigen Kabine auf.
»Ist gleich fertig.« Noah stand am Ofen und kochte Wasser auf.
Lettie spürte die Luft um sich herum knistern. »Aber ich brauche es auf der Stelle !«
Ein Blatt löste sich von Noahs Stängel, und der Junge schaute zu Boden. Sofort hatte Lettie ein schlechtes Gewissen, weil sie so ungehalten gewesen war. Sie wandte sich ab und biss sich fest auf die Lippe.
»Tut mir leid, Noah. Ich hör mich ja schon an wie das Walross. Ich wollte nicht gemein sein. Liegt wohl an diesem Äther … mir ist so unglaublich kalt!«
Noah zuckte mit den Schultern und stocherte in der Glut. »Ich weiß. Macht nichts, Lettie. Du warst großartig da draußen. Eine echte Heldin.«
Lettie fühlte sich beim Klang seiner Worte noch schlechter, aber auch ein kleines bisschen wärmer – schließlich hatte sie auch Noah das Leben gerettet. Jetzt war er dran, sie zu retten. Er bedeutete ihr, sich auf einen Stuhl in der Ecke zu setzen. Sie tat, was er sagte, und wartete auf den Tee.
Die Kabine war ein winziges Räumchen voller heimeliger Schatten und Düfte. Neben dem Duft der Wachskerzen drangen weitere Gerüche in Letties Nase: Sägemehl, Rauch, Zimt … Auf einem Regal waren Töpfe, Gabeln, Holzbecher und natürlich Letties Vater in Gestalt der Bierflasche aufgereiht. Der kleine Ofen, an dem Noah stand, befand sich in einer Ecke, daneben ein Eimer voller schmutzigen Geschirrs. Auf der anderen Seite war ein zerwühltes Kojenbett. An der Wand über dem Kissen prangten merkwürdige Worte und Symbole, mit Kreide geschrieben. Vermutlich Noahs Gebete oder seine Art, schöne Träume herbeizuwünschen, dachte Lettie.
Neben ihrem Stuhl stand ein niedriger Tisch, auf dem Karten ausgebreitet lagen – von Sternbildern, die Lettie noch nie gesehen hatte. Dazu unbekannte Küstenlinien, und über allen zog sich ein Geflecht aus Routen und Kreuzen in orangefarbener und grüner Tinte. Eine Pflanze, die über dem Bullauge aus einer Korb-Hängeampel wuchs, summte sanft vor sich hin. Lettie betrachtete sie eine Weile. Sie sah, wie der Wind durch die zylinderförmigen Blätter fuhr und sie zum Singen brachte.
»Das ist ein Singsang-Strauch«, erklärte Noah, als er Letties Blick bemerkte. »Ich habe ihn mitgenommen, als ich von zu Hause weg bin.«
Es fiel Lettie nicht schwer, sich vorzustellen, wie Noah wohl hier in diesem Raum lebte. Überall zeugten Kleinigkeiten von seiner Herzensgüte und seiner Einfühlsamkeit – so hatte ihn Lettie kennengelernt. Aber die Kabine zeigte ihr auch Dinge, die sie noch nicht wusste: wie unordentlich er war – und wie einsam. Sie dachte daran, wie es für ihn sein musste, immer allein über die Meere zu schippern, ohne Familie, ohne Freunde. Wie sehr er sein Zuhause vermissen musste. Warum wohl hatte er sonst vom fünften
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