Letzte Ausfahrt Neckartal
Sie denn die ganze Zeit?«
»Ich habe die letzten Tage bei einem Bekannten drüben in Koszutka übernachtet. Meine eigene Wohnung in der Juliusza Ligonia kam mir zu gefährlich vor. Wer weiß, was dieser Killer in der Zwischenzeit so alles über mich in Erfahrung gebracht hat.«
Der Anwalt zupfte an seiner türkisen Krawatte und schaute unentwegt zwischen Treidler und Melchior hin und her. Gaska kratzte sich unter seiner olivgrünen Cordmütze. Er schien nachzudenken. Treidler hingegen war sich mit einem ganz sicher: Stankowitz und Lewandowski – beide wurden von demselben Mann getötet.
»Gut.« Gaska stemmte sich aus seinem Stuhl. »Wenn die Kollegen aus Deutschland keine Fragen mehr haben, bringe ich Sie jetzt zu unserem Zeichner. Ich denke, in spätestens einer Stunde haben wir ein Phantombild des Mörders.« Er blickte zu Treidler und Melchior. »Sie warten am besten drüben in der Cafeteria. Sobald die Zeichnung fertig ist, komme ich zu Ihnen.« Er nickte Kowalski auffordernd zu.
Der stand auf, und sein Anwalt tat es ihm nach. Die drei wandten sich zum Gehen, als Melchior sagte: »Herr Kowalski, einen Moment noch bitte.«
Kowalski drehte sich um. »Ja?«
»Fällt Ihnen zu Österreich etwas ein?«
»Merkwürdig, dass Sie danach fragen«, erwiderte er mit einem Stirnrunzeln.
»Warum?«
»Ich habe versucht, etwas über Iceman herauszufinden: Name, Adresse und so weiter. Doch da war nichts. Er hat immer seinen Computer mit Proxys verschleiert. Und die meldeten sich mit IP -Adressen aus der Nähe von Innsbruck.«
Treffer , schoss es Treidler durch den Kopf. Nach Stankowitz’ Hinweis auf den österreichischen Server verfügten sie nun über einen weiteren Anhaltspunkt, der nach Innsbruck führte. Es schien, als ob Iceman von dort aus die Fäden zog.
Schon nach etwas mehr als einer halben Stunde kam Gaska mit einem gefalteten Blatt Papier in der Hand zurück. Seine Miene sah wenig zuversichtlich aus, und Treidler vermutete, dass er sich mehr von Kowalskis Sitzung mit dem Zeichner versprochen hatte.
Obwohl Treidler sich ebenfalls nicht viel von der Phantomzeichnung erhofft hatte, war auch er enttäuscht. In verwaschenen Konturen zeigte das Bild einen Mann mittleren Alters mit kurzen Haaren. Alles an ihm wirkte gewöhnlich: durchschnittliche Proportionen von Mund, Nase, Wangen sowie Kinn und kaum Besonderheiten bei der Kopfform und den Gesichtszügen. Lediglich die markanten Koteletten und die kleinen Augen unterschieden sich von einem Allerweltsgesicht, wie es an jeder Ecke anzutreffen war.
18
Dienstag, 18. April
Am nächsten Morgen sah es im Rottweiler Umland so aus, als ob der Winter zurückkehren wollte – zumindest für eine kurze Zeit. Graupel und Schneefall überzogen das Land mit einer schweren weißen Schicht. Doch genauso schnell wie die Abkühlung gekommen war, schlug das Wetter um, und die Frühlingssonne setzte dem Spuk ein Ende. Zurück blieben der Matsch und fluchende Menschen, die genug von derart launischem Aprilwetter hatten.
Nach dem Rückflug von Kattowitz hatte Treidler Melchior am Abend zuvor an ihrer Frühstückspension abgesetzt und war wie ein Stein ins Bett gefallen.
Er verspürte keinerlei Eile, in sein Büro zu kommen. Für den Morgen hatte er keine Termine, und es blieb noch genügend Zeit, um Paschl seine verblödete Theorie um die Ohren zu hauen. Nichts, aber auch gar nichts, was der Verbindungsbeamte des BKA zustande gebracht hatte, ergab Sinn. Die Operation Swabian Punch stellte sich als der größte Blödsinn heraus, der Treidler bisher untergekommen war. Und nach den neuen Erkenntnissen, die er und Melchior aus Kattowitz und Berlin mitbrachten, würde der Mann vom BKA vermutlich vor Petersen zu Kreuze kriechen müssen.
Treidler wollte nur in aller Ruhe die Tageszeitung von vorne bis hinten durchlesen. Auch der Schwarzwälder Bote hatte die Enthüllungen über die weltweite Datenspionage durch Geheimdienste aufgegriffen. Er überflog den Artikel, der zur gestrigen Ausgabe der FAZ keine neuen Details aufwies, und blätterte weiter.
Mord an Rastanlage Neckartal vor der Aufklärung – Tatverdächtiger festgenommen , sprang ihm die Schlagzeile entgegen. Auch der Untertitel versprach kaum weniger reißerisch die Antwort auf die Frage: Warum musste der junge Pole sterben?
Reflexartig ließ Treidler die Gabel fallen. Im ersten Teil des Artikels, der mit einem Bild des Opel Kadett an der Rastanlage gut und gerne ein Drittel der Seite einnahm, wurde detailliert die Tat
Weitere Kostenlose Bücher