Letzte Ausfahrt Ostfriesland
nehmen«, sagte ich.
Er schaute mich ernst an.
»So offen würde ich mich nicht präsentieren. Wenn die Presse auch nur einen leisen Wink erhält, dann stehen Sie mit Foto in den Spalten der Boulevardpresse und werden ausgeschlachtet, bevor Ihre Tochter auch nur einen Fuß in die Freiheit setzt. Außerdem müssen Sie sich nicht gerade vor den Meerestieren auf einem Tablett präsentieren.«
»Sie haben recht«, antwortete ich. »Denn bis heute Morgen hatte ich Paul bei mir.«
Weidenreich überlegte. »Ich besitze eine kleine Wohnung, die ich mit meiner Verlobten teile, die als Ärztin zurzeit Nachtdienst im Krankenhaus hat. Sie können zu mir kommen.«
»Das ist sehr freundlich«, antwortete ich. Doch mir fiel Werner ein. »Vielleicht ist mein Freund in Berlin und nimmt mich auf.«
Weidenreich langte zum Telefonhörer.
»Wir wollen nichts dem Zufall überlassen. Welche Nummer hat er?«
Ich diktierte ihm die Nummer in die Scheibe.
»Ach, Frau Selter, Sie sind es. Mein Name ist Weidenreich. Ich rufe aus Berlin an. Ist Ihr Mann zu sprechen?« Der Anwalt blinzelte mir zu.
»Danke«, sagte er und hängte ein.
»Ihr Freund ist mit seinen Studenten auf einer Exkursion in Süddeutschland, Herr Doktor Udendorf. Er wird erst in drei Wochen zurück erwartet«, sagte Weidenreich.
»Sie meinen, ich sollte …?«, fragte ich ihn überrascht.
»Er ist doch Ihr Freund, und Sie sitzen in der Klemme«, stellte er fest.
Wir verließen sein Büro. Er schloss die Tür hinter sich ab und führte mich zum Parkplatz. Er trat an einen alten Mercedes, öffnete die Tür, stieg ein und ließ mich zusteigen.
»Den Wagen habe ich von meinem Vater übernommen. Ich bot ihm mehr als die Werkstatt«, sagte er, als müsse er sich entschuldigen.
Ich nannte ihm die Adresse. Es war bereits dunkel. Die Straßenlaternen brannten. Weidenreich ließ sich Zeit, wagte keine Überholmanöver und hielt die Geschwindigkeitsvorschriften ein.
Die Bilder der späten Großstadt ermüdeten mich. Ich sehnte mich nach Ruhe.
Weidenreich fand in einer Nebenstraße eine Parklücke. Er öffnete die Heckklappe des Wagens, reichte mir meine Reisetasche und durchwühlte eine kleine Werkzeugkiste.
»Ich hoffe, dass dieser Dietrich passt«, sagte er.
Ich führte ihn in das Haus, das unbelebt wirkte. Niemand begegnete uns. Wir versuchten die Wohnungstür zu öffnen, doch es gelang uns nicht.
»Warten Sie hier auf mich«, forderte er mich auf und eilte davon.
Ich lehnte mich an ein Fenster am Ende des Korridors und rauchte eine Zigarette. Draußen sah ich nur die Lichter der Nachbarhäuser und dahinter den hellen Himmel von Berlin.
Weidenreich erschien mit einem Handwerker, der ihm in wenigen Sekunden einen Schlüssel aushändigte.
»Bezahlen Sie im Geschäft, Herr Rechtsanwalt«, sagte er, packte sein riesiges Schlüsselbund in die Handwerkertasche und ging.
Weidenreich begleitete mich in die kleine Wohnung, die mir wie ein Stück Heimat vorkam.
Ich schritt an den Kühlschrank. Zu meiner Freude hatte Werner gekühltes Bier auf Vorrat. Ich entnahm ihm zwei Flaschen, stellte sie auf den Tisch und fragte Weidenreich: »Ein Bier?«
Der Anwalt nickte. Wir setzten uns im Wohnzimmer an den Tisch, berieten uns und beschlossen, dass ich ihn morgen Nachmittag, das war ein Mittwoch, aufsuchen sollte.
Von dort wollten wir die Filme meiner Tochter zu einem Fotogeschäft bringen, das ein Tennisfreund von ihm führte, auf den Weidenreich sich voll verlassen konnte. Erst danach wollten wir uns über die weiteren Schritte einigen.
Es war etwa dreiundzwanzig Uhr, als der Anwalt mich verließ. Ich fühlte meine Knochen, doch eine innere Ruhe und Zufriedenheit ließ mich die bleierne Schwere leicht ertragen. Ich löschte das Deckenlicht und begnügte mich mit dem matten Schein der kleinen Tischlampe.
Ein Hauch von Daheim, dachte ich, und beruhigt wusste ich meine Tochter und meine geliebte kleine Kaya nicht nur in Sicherheit, sondern fühlte auch ihre Nähe.
Natürlich war ich noch lange nicht am Ziel. Aber ein Rückblick auf die Bilanz meiner langen Reise ließen das winzig erscheinen, was ich an Schwierigkeiten noch vor mir hatte. Mein Optimismus setzte sich durch, und das gekühlte Bier krönte meine kleine Siegesfeier.
Auch der Rechtsanwalt Weidenreich fügte sich ein in die gedachte Harmonie. Ich hatte in der kurzen Zeit einen Freund gewonnen, der ehrgeizig nach Chancen seiner beruflichen Bewährung suchte. Das konnte mir nur recht sein, denn meiner Tochter musste
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