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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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die zähle, und nicht etwa Zeitquantität, schien ihr nicht zu gefallen. Ich konnte ihr deutlich die Konzentration ansehen, die einer aufgeblasenen Bemerkung über die Natur des Vertrages zwischen Arbeitgeber und Angestellten vorausging. Auch das war typisch für Jenna: Sie musste immer alles, wirklich alles , was in ihrem Kopf vorging, loswerden, und zwar sofort. Sie war nicht in der Lage, ihre Gedanken zurechtzustutzen, zu kürzen oder möglicherweise ganz für sich zu behalten.
    »John«, erklärte sie mit dem ihr eigenen Ernst, der mit jedem Atemzug über ihre dicken, bleichen Lippen strömte, »es gibt da eine äußerst wichtige Sache, über die ich mit dir reden muss.«
    Zu schade, dass die dumme Pute nicht wenigstens bei dieser Gelegenheit ihre Meinung für sich behalten hat.
    Ich war immer der Ansicht, dass es die Pflicht junger Leute ist, attraktiv auszusehen. Insbesondere gilt das für Frauen. Selbst wenn sie nur über wenige natürliche Vorzüge verfügen, können sie immer noch einiges daraus machen, wenn sie sich nett kleiden, dafür sorgen, dass ihr Haar duftig und sauber ist, und sich der Kosmetik bedienen, um so hübsch wie möglich auszusehen. Eine junge Frau darf einfach nicht mit fettigen, strähnigen Haaren in der Bibliothek sitzen, ihren feisten Körper in ausgebeulte Sweatshirts und viel zu enge schwarze Leggins stecken und mit dicken Stiefeln an ihren großen Füßen herumlatschen. Und vor allem sollte sie lächeln. Für weibliche Frauen sollte das verpflichtend sein und ist sicher nicht zu viel verlangt, oder? Überhaupt sollte die krönende Pracht jeder Frau ihr Haar sein. Warum hat Jenna ihres nicht wachsen lassen? Ihre Haarfarbe war nicht schön. Es war nicht das Rotbraun, das ich so gern sehe, aber sie hätte zumindest etwas tun können, um das Haar dicker und welliger aussehen zu lassen. Andere junge Frauen tun es doch auch. Warum hat sich Jenna nicht im Geringsten angestrengt, ein wenig hübscher zu wirken? Ich bin sicher, ich hätte über eine Zukunft des Mädchens nachgedacht, wenn ich wenigstens an eine Perspektive hätte glauben können.
    Alle behaupteten, Jenna habe ein gutes Herz. Wenn Jenna der Meinung war, dass jemand ihrer Fürsorge bedurfte, dann kümmerte sie sich um ihn. Ohne Zögern und ohne Umschweife. Mich hat sie nie in ihre Fänge bekommen, aber der gute alte Robin mit seinen weißen Haaren und seiner Gelehrtheit befand sich lange auf der Empfängerseite ihrer rückhaltlosen Wohltätigkeit. Zugegeben, der alte Junge wurde allmählich ein bisschen tatterig, und vermutlich haben wir anderen ihm seine Bücherstapel nicht so oft abgenommen, wie es uns möglich gewesen wäre. Jenna hingegen tat es im Übermaß, und immer mit diesem kränklichen Lächeln auf den Lippen. Nicht, dass Robin Notiz davon genommen hätte. Er behandelte sie mit der gleichen altmodischen Höflichkeit, die er einem Goten oder Vandalen auf der Durchreise hätte zukommen lassen.
    »Aber er weiß so viel über die Bibliothek«, schwärmte Jenna. »Wusstest du, dass er seit zweiundvierzig Jahren hier arbeitet?«
    »Ja, Jenna, das wusste ich«, sagte ich, aber Jenna hörte mir nicht zu.
    »Er hat mir erzählt, wie vor vielen Jahren hier gearbeitet wurde«, redete sie weiter. »Wie die Eingänge und Ausgänge im System behandelt wurden. Es ist wirklich faszinierend.«
    »Faszinierend, ja«, sagte ich und dachte heftig nach. »Nicht, dass es damals schon so etwas wie ein System gab.«
    »Gab es wohl«, sagte Jenna. »Alles wurde doppelt und dreifach überprüft und eingetragen. Sie wussten immer, wo sich die Bücher befanden. Es stimmt schon, Computer sind eine tolle Erfindung, aber ich glaube, das alte System war auf seine Art narrensicher. Und außerdem ist Robin so etwas wie, na ja, eine Fundgrube für das frühere Wissen und die Geschichte der Bibliothek. Ich spüre, dass ich dieses Wissen weitergeben kann, wenn ich ihm genau zuhöre und von ihm lerne.«
    »Wie ein heiliges Vermächtnis?«, hakte ich nach.
    »Genau«, sagte Jenna, ohne die Ironie meiner Frage zu bemerken, sondern glücklich, dass ich ihren Standpunkt schließlich doch noch begriffen hatte. »Natürlich werde ich die Zeit nacharbeiten«, sagte sie tugendsam. »Es wäre nicht recht, während der Arbeitszeit zu plaudern.«
    »Wirklich nicht«, sagte ich. »Und wo wir gerade beim Thema sind, Jenna – ich muss jetzt wirklich weiter.«
    Natürlich hatte Jenna Recht. Robin war eine wahre Fundgrube an Anekdoten, Fabeln und interessanten

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