Letzte Ausfahrt Oxford
Einige sind mir ins Badewasser gefallen, andere habe ich mit Tomatensuppe oder Kaffee bekleckert. Bei vielen ist der Rücken gebrochen und der Schutzeinband eingerissen. Ein paar sind vom Tageslicht ausgeblichen. Aber dafür entschuldige ich mich nicht. Meine Bücher führen ein aufregendes Leben. Sie verlassen ihr Zuhause hier im Untergeschoss und wagen sich in die weite Welt, wo sie viele Verlockungen kennen lernen, aber manchmal eben auch einen Unfall haben. Und verlieren Sie mir bloß nicht dieses Lesezeichen. Es markiert eine wichtige Stelle; etwas, das ich irgendwann verwenden will.«
»Ja, das ist auch so eine Sache. Warum gibt es hier so viele Lesezeichen? Sie können doch bestimmt nicht all diese Bücher gleichzeitig lesen.«
»Können Sie nicht an mehreren Fällen gleichzeitig arbeiten? Ich bin jedenfalls in der Lage, zur gleichen Zeit mehrere Ideen im Kopf zu haben. Übrigens eine typisch weibliche Eigenschaft.«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, antwortete aber nicht. Vorsichtig stellte er das Buch an seinen Platz zurück und griff nach den bedruckten Seiten, die Kate ihm reichte.
»Wie schon gesagt: Es ist nicht viel. Nur der Bezug zu Jenna, den ich Ihnen wahrscheinlich ausreichend erklärt habe.«
Sie heftete die Notizen wieder in den Ordner, und sie verließen das Arbeitszimmer. Auf der Treppe nach oben sagte er: »Aber Sie informieren mich doch über alles, was weiter geschieht, oder?«
»Mache ich. Wie kommt Ihr Stoffwechsel mit dem Whisky zurecht?« Sie wollte ihr Haus wieder für sich allein haben.
»Ein Viertelstündchen wird es wohl noch dauern.«
Also machte sie noch einen entkoffeinierten Kaffee, den sie in trautem Nebeneinander auf dem Sofa tranken. Paul hatte dichtes, weiches Haar, und wenn sie es mit halb geschlossenen Augen betrachtete, konnte sie sich einbilden, es sei von jenem satten Dunkelbraun, das sie bei Männern immer so attraktiv fand.
»Ist der Fall Jenna eigentlich abgeschlossen?«
»Zurzeit wird nicht mehr aktiv daran gearbeitet. Aber ein Mordfall ist grundsätzlich erst dann abgeschlossen, wenn er gelöst ist. Zugegeben, dieser hier köchelt auf Sparflamme. Wir können zurzeit nichts anderes tun, als auf neue Beweise oder einen ähnlich gelagerten Fall zu warten, der uns eine Richtung weist. Alle Details sind im Computer gespeichert, und wenn irgendwo im Land ein vergleichbarer Mord geschieht, bringen wir die beiden Fälle in Verbindung, und Jennas Fall wird wieder aufgerollt. Von dem, was wir beide heute Abend besprochen haben, ist nicht ein Detail wirklich amtlich: Mein Chef würde es nicht gutheißen, wenn ich meine Arbeitszeit an einen Fall mit derart geringen Aufklärungsmöglichkeiten vergeudete.«
»Arme Jenna. Mir scheint, ihre einzige Chance auf Gerechtigkeit liegt in meinen Händen.«
Pauls blaue Augen blickten ihr gerade ins Gesicht. »Mir scheint, Sie sehen die Situation ein wenig zu dramatisch.«
»Ihre Viertelstunde ist vorüber, Paul«, sagte Kate.
Nachdem er gegangen war, spielte sie flüchtig mit dem Gedanken, Emma zurückzurufen, entschied aber dann, dass es dafür erheblich zu spät war. Stattdessen ging sie ins Arbeitszimmer hinunter und vervollständigte ihre Notizen über Jenna Coates. Zwar hatte Paul einige der Fragen beantwortet, die sie sich am Vortag notiert hatte, aber sie konnte sich nicht daran freuen, die Antworten niederzuschreiben.
Als sie fertig war, ging sie nach oben und legte sich zu einer weiteren Runde mit Frankenstein ins Bett.
VI
Charakterschilderung
E s gibt Menschen, die sind so kompromisslos tugendhaft, dass sie wirklich keinen Platz in unserer Welt haben (was ich, wenn ich ehrlich bin, vielleicht erst hinterher behauptet habe). Erzählt man ihnen eine Geschichte, die man ein wenig ausschmückt, um sie witziger zu gestalten, unterbrechen sie einen garantiert mit einer Bemerkung wie: »Aber sie hat doch sicher nicht wirklich mit den Kuchenstücken jongliert … «, oder was auch immer man an kleinen Übertreibungen zu seiner Grundidee hinzugefügt hat. Eine derartig wortklauberische Wahr heitsliebe macht ihnen das Leben in unserer Welt nicht leichter. Zumindest nicht, wenn sie überleben wollen. Wenn ich zum Beispiel um drei Minuten vor zwölf in die Mittagspause gehe, schreibe ich (wie Sie vermutlich auch) 12:00 Uhr auf, um die anschließende Berechnung zu vereinfachen. Sie hingegen folgt mir auf dem Fuß, atmet mir höchst ernsthaft in den Nacken und schreibt 11:55 Uhr hin. Meine Bemerkung, es sei Zeitqualität,
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