Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
Vom Netzwerk:
Einsichten in die Arbeitsweise des Establishments. Mit seiner Gesundheit stand es allerdings nicht zum Besten. Nur wenige Wochen nach der Unterredung mit Jenna setzte er sich zur Ruhe (natürlich nur, um endlich die ultimative Bibliographie des achtzehnten Jahrhunderts oder etwas Ähnliches zu schreiben), genoss aber sein Pensionärsleben nicht sehr lange. Nein, schauen Sie mich nicht so an. Es hatte wirklich nichts mit mir zu tun, vielmehr mit verkalkten Arterien und einer geradezu kindlichen Vorliebe für Sahnetorten.
    Nachdem sie das erste Mal mit mir gesprochen hatte, ging ich weg und dachte über sie nach. Ahnte sie vielleicht, was wir taten? Es war durchaus möglich, dass sie in den alten Eintragungen herumgeschnüffelt und Unstimmigkeiten im Bestand gefunden hatte. Und wenn das der Fall war, konnte sie wissen, dass die Sache weit über die Grenzen unserer eigenen Institution hinausging?
    Ich arrangierte es, sie im Pausenraum der Belegschaft zu treffen (der in Wahrheit ein winziges Kabuff war, wo wir den Instantkaffee schwarz in uns hineinschütteten, während auf dem Fensterbrett Packungen mit verdorbener Milch vor sich hin stockten), und zwar zu einer Zeit, wo wir vermutlich allein sein würden. Ich goss uns einen Becher Pulverkaffee auf und lud sie ein, sich zu mir zu setzen. Sie lächelte mich an. Breite Zähne fand ich noch nie attraktiv.
    »Nun, Jenna«, sagte ich onkelhaft, »ich weiß, dass es da etwas gibt, das dir Kummer bereitet. Möchtest du mir erzählen, worum es geht? Möglicherweise kann ich dir ja helfen.« Ich versuchte ein freundliches Lächeln, aber ich glaube, es gelang mir nicht richtig.
    »Ich glaube, du stiehlst Bücher«, sagte sie in ihrer grausam direkten Art. Eine Strähne fettigen Haares fiel ihr in die Stirn, und sie schob sie mit ihrer dicklichen Hand zurück. Schuppen rieselten auf ihre Schultern herab. »Warum sagst du mir nicht einfach die Wahrheit, und dann gehen wir beide zum Direktor und beichten ihm alles?«
    Der Spruch raubte mir fast den Atem. Gibt es wirklich Menschen, die so denken? Dass man einfach so hingeht und seinem Vorgesetzten die Wahrheit wie ein Stück Fleisch präsentiert – roh, ungewürzt und nicht angerichtet? Ich fand es nur plump, um nicht zu sagen unmoralisch. Verstand sie die verderbliche, quälende Wirkung ungeschminkter Wahrheit wirklich nicht? Das Leben konnte den Erwartungen der Menschen nur entsprechen, wenn man seine Blöße mit einer sittsamen Hülle aus harmlosen Lügen bedeckte, die der Bescheidenheit keinen Abbruch tat und keinem Betroffenen die Schamesröte in die Wangen trieb.
    »Ich bin sicher, da hast du etwas falsch verstanden«, sagte ich und bemühte mich, das Lächeln auf meinem Gesicht einzufrieren. »Wie kommst du darauf, ich könnte … nun … was du gerade gesagt hast?«
    »Ich zeige es dir«, sagte sie, schüttete den Kaffeerest ins Waschbecken, spülte ihren Becher (ohne an meinen zu denken, was, wenn ich das anmerken darf, durchaus ihrer unweiblichen Art entsprach), trocknete ihn ab und ging mir voraus aus dem Raum.
    »Weißt du«, sagte sie, nachdem sie sich vor ihrem Terminal niedergelassen hatte, »die Verwaltung ist der Meinung, dass man Einträge von anderen Leuten nur löschen kann, wenn man einen bestimmten Dienstgrad hat. Einen höheren jedenfalls als ich.« Sie loggte sich ins System ein und tippte ihre Legitimation und ihr Passwort mit solcher Geschwindigkeit, dass ich beides nicht erkennen konnte. Dann holte sie sich einen Eintrag auf den Bildschirm, der wie eine ausführliche Katalogkarte aussah.
    »Dieses Buch hier habe ich gestern eingegeben«, sagte sie. Laut Eintrag musste es sich noch auf dem Handwagen neben ihrem Schreibtisch befinden. »Wenn ich es stehlen wollte, würde der Diebstahl sofort bemerkt, sobald jemand im Katalog nachsähe, die Standortmarkierung fände, im entsprechenden Regal suchte und es nicht fände. Es gäbe keinen Hinweis, dass das Buch ausgeliehen wäre – es wäre einfach weg. Aber im Eintrag stehen der Name der Bibliothek, meine Initialen und das Datum von gestern. Also würde sofort jemand zu mir kommen und mich fragen, wo das Buch geblieben ist.«
    »Sehr gut«, sagte ich humorig. »Wenn du so weitermachst, werden sie dich mit Handkuss in der Sicherheitsabteilung willkommen heißen.«
    Sie hörte nicht hin. »Wenn ich den Eintrag allerdings löschen könnte, könnte ich das Buch wegnehmen, und keiner würde das Geringste bemerken. Es könnte Monate dauern, ehe jemand sich erinnerte,

Weitere Kostenlose Bücher