Letzte Ausfahrt Oxford
erreichen. Ich kroch aus meinem Versteck und stellte die Wanderschuhe zurück an die Hintertür; allerdings ein wenig weiter seitlich. Dann hastete ich zu meinem Wagen, sprang hinein und ließ den Motor an. Erst fuhr ich Richtung Bahnhof, dann wendete ich und machte mich langsam auf den Weg zur Jugendherberge. Noch war ich außer Sichtweite. Ich ließ das Fenster herunter, um Jenna gebührend begrüßen zu können, wenn ich ihrer ansichtig wurde.
»Da sind sie ja!«, vernahm ich einen triumphierenden Ruf, und eine robust beschuhte und bommelbemützte Jenna tauchte neben dem Haus auf und winkte mit den wiedergefundenen Wanderschuhen ihren längst verschwundenen Freunden hinterher.
»Oh«, entfuhr es ihr düster. Ich wartete, bis sie ihren Rucksack holen ging, ehe ich mich auf das letzte Stück zur Jugendherberge aufmachte. Die Straße war schmal, und es war ganz natürlich, für einen entgegenkommenden Fußgänger zu bremsen. Als ich mit ihr auf gleicher Höhe war, hielt ich an und rief durch das offene Fenster:
»Jenna! Das ist doch Jenna Coates! Was um alles in der Welt tust du hier?«
»Ich bin auf dem Rückweg nach Oxford«, sagte sie. »Leider habe ich den Zug verpasst, und der nächste geht erst in zwei Stunden.«
»Na, dann ist es ja ein Glück, dass wir uns getroffen haben«, sagte ich mit meinem freundlichsten Lächeln. »Steig ein, ich nehme dich mit.«
Vor uns lag die Autobahn, ein langes, regenglänzendes graues Band, zerteilt von den Scheinwerfern entgegenkommender Autos. Im Handschuhfach lag eine Damenstrumpfhose, die ich zwar schon aus ihrer Hülle genommen hatte, die aber noch neu und unbenutzt war. Die zarte Farbe, wie leichter Holzrauch, gefiel mir gut. Ich legte eine Kassette ein. Es war Mahlers Fünfte Symphonie.
Jenna sagte etwas.
»Wie bitte?« Die Räder dröhnten über den Beton der Straße. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen. Vor uns war nichts als graue Straße und ein noch grauerer Himmel. Die grellen Scheinwerferlichter der anderen Autos brachen sich an der Windschutzscheibe und zerflossen.
»An der nächsten Ausfahrt müssen wir raus«, wiederholte sie. Sie sprach viel zu laut – als wäre ich taub, oder dumm, oder sehr weit weg.
»Bist du sicher?«
»Natürlich«, sagte Jenna mit ihrer selbstbewussten, hässlichen Stimme. »Hast du das Schild nicht gesehen?«
»Nein.« Wie sollte man Worte erkennen, wenn die ganze Welt grau in grau versank?
»Jedenfalls ist es die nächste«, sagte Jenna. »Wir müssen die Ausfahrt Oxford nehmen.«
Sie werden mir bestimmt erklären, dass ich mehr Action in diese Szene hätte bringen sollen, nicht wahr, Mrs. Dolby? Kurze, lebhafte Sätze. Farbige, ausdrucksstarke Verben. Nun, wenn Sie Handlung haben möchten, sollen Sie sie bekommen. Und einen Höhepunkt obendrein.
Leider kann ich über den Tod keine hübsche Geschichte schreiben, denn Tod ist nun einmal nicht hübsch. Jedenfalls der wirkliche Tod nicht. Man sollte ihn sich nur in Schwarz-Weiß ansehen. Vielleicht bei Mondlicht, oder im Kamerablitz eines Fotografen. Das Schlimmste am Tod ist seine Farbe, diese klebrigen Spuren in allen Rotschattierungen. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich an die poetische Beschreibung halten, die ich Ihnen zu Beginn gegeben habe. Die Polizei, die Besatzung des Krankenwagens und der Pathologe sehen den Tod natürlich unverhüllt, aber sie haben entartete Worte, hinter denen sie die Hässlichkeit verstecken und damit Abstand von der Realität gewinnen können.
Als alles vorüber war, fiel mir auf, dass die Kassette im Auto immer noch lief. Sie hatte inzwischen das Adagietto erreicht, einen herzzerreißend schönen Satz. Vielleicht veranlasste mich die Musik, die Pfingstrose auf Jennas Grab zu legen.
Ich wünschte, ich könnte schlafen. Ich wünschte, ich könnte vergessen. Glauben Sie, ich werde es endlich los, nachdem ich es aufgeschrieben habe?
Es tut mir Leid, Mrs. Dolby, aber diese Hausarbeit dürfen Sie nie zu Gesicht bekommen. Melden Sie mich als abwesend.
8. KAPITEL
San Francisco, Donnerstag.
L ieber Andrew,
das Beste an der Damentoilette des Flughafens von San Francisco ist seine trübe Beleuchtung. Nach einem Ausflug in seit zwölf Stunden andauerndem, strahlendem Sonnenschein scheinen meine Augenlider festgeklebt und meine Augen voller Sand zu sein. Dabei ist es gerade erst vier Uhr nachmittags. Die Sonne draußen brennt immer noch erbarmungslos von einem wolkenlos blauen Himmel und hat das, soweit ich es beurteilen
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