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Letzte Beichte

Letzte Beichte

Titel: Letzte Beichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
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eingesperrt gewesen. Die einzige Vergünstigung für Gefangene in Untersuchungshaft ist der tägliche Besuch (anstelle der drei monatlichen Besuche, die einem verurteilten Häftling zustehen). Aber diese Vergünstigung war in Jeremys Fall bedeutungslos, weil niemand ihn besucht hatte. Er hatte nicht einmal mit jemandem telefoniert.
    Er sagte mir, dass es ihm gut gehe und dass er aus freien Stücken den Kontakt zu Amanda abgebrochen habe. Er fühle sich ihrem Besuch einfach nicht gewachsen, sagte er. Für einen Mann in seiner Situation war das nichts Ungewöhnliches: einfach in die Haft abzutauchen und sich darin zu verstecken. Er habe die Briefe, die Amanda ihm täglich geschrieben hatte, weggeworfen, weil er es nicht über sich gebracht habe, sie zu lesen, sagte er, und in seinen blauen Augen standen Tränen. Er war kurz davor loszuheulen.
    Ich wollte nicht, dass er zu weinen begänne. Ein weinender Klient ist ein Problem. Ich hätte zwei Möglichkeiten: mich wie ein herzloser Schweinehund zu benehmen, seine Tränen zu ignorieren und das Gespräch mit einem »Soll ich lieber ein anderes Mal wiederkommen?« zu beenden. Oder ihn zu umarmen. Aber dadurch hätte ich meine Autorität und Professionalität untergraben und mich als Weichei zu erkennen gegeben.
    Also tat ich alles in meiner Macht Stehende, seinen Tränenfluss aufzuhalten. Ich schaltete in meinen Spezialmodus aufmunternder Anteilnahme und berichtete von meinen eigenen Momenten der Zaghaftigkeit, ehe ich mit der Befragung fortfuhr. Natürlich erzählte ich ihm nicht zu viel von mir, das wäre unprofessionell gewesen, nur ein bisschen von diesem und jenem, damit er sich entspannen und Vertrauen fassen konnte. Und es war klar, dass meine Methode funktionierte, denn er redete zwei Stunden lang. Ich war von meinen Kollegen gewarnt worden, dass Befragungen oft zwei Stunden dauerten, und ichhatte mich gefragt, wie sie das überhaupt durchstanden – auf einem Stuhl in einem muffigen Zimmer zu sitzen, Fragen zu stellen, Dinge zu rekapitulieren und bei alldem eine friedliche, unvoreingenommene Haltung einzunehmen, die gleichzeitig professionelle Distanz und Autorität ausstrahlt. Aber bei Jeremy war ich zu meinem eigenen Erstaunen so interessiert an allem, was er sagte, dass die Minuten wie im Flug vergingen.
    Zunächst mal faszinierte mich seine Arbeit als Immobilienentwickler. Ich bin ein unterfinanzierter, unerlöster Immobilienjunkie. Sie wissen schon: jemand, der viel zu viel Zeit damit verbringt, sich im Fernsehen grottenschlechte Renovierungsshows anzuschauen und von einem Häuschen in Spanien zu träumen (mit Veranda und einem dieser Pools, die mit dem Horizont verschmelzen, sodass es aussieht, als könne man in den Himmel schwimmen). Dabei hatte ich es in all den Jahren, die ich in meiner Wohnung lebte, nicht einmal geschafft, das Badezimmer zu renovieren. Also war ich sehr beeindruckt von Jeremy, der sieben Wohnungen im Großraum London besaß, zwei Renovierungsprojekte am Laufen hatte und drei Vollzeitmitarbeiter beschäftigte.
    »Wie schaffen Sie es, dass die Arbeiter pünktlich kommen?« fragte ich ihn mit der geballten Kompetenz meines Fernsehwissens.
    »Das geht schon«, sagte er. »Schokokekse funktionieren prima.«
    Seine Beziehung zu Amanda war offensichtlich sehr leidenschaftlich gewesen, auch wenn er nicht viel von ihr sprach – außer, um zu sagen, das sie wundervoll sei und er alles tun würde, um sie zu beschützen. Deshalb habe er Besuche abgelehnt: um sie vor diesem Ort zu beschützen.
    Zu seinen Hobbys zählten Radfahren, Joggen, thailändische Küche, Lesen (genau wie ich hatte er es nie geschafft, etwas von James Joyce zu Ende zu lesen) und Filme (er hatte denselben Lieblingsfilm wie ich, Die Verurteilten ).
    Und er hatte eine herzzerreißend schreckliche Kindheit gehabt.

    Als ich ihn fragte, wie er aufgewachsen sei, ließ er den Kopf hängen und wiegte ihn leise hin und her. Nach einer Weile versuchte er etwas zu sagen.
    »Wie bitte?« Ich hatte seine Gemurmel nicht verstanden. »Ich, ähm …«, fiepte er. Noch immer schüttelte er seinen gesenkten Kopf.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte ich.
    Mühsam richtete er den Kopf auf. Seine Lippen bebten, und er atmete tief aus. Dann sah er mich an.
    »Als ich vier Jahre alt war, habe ich etwas wirklich Schreckliches getan. Deshalb bin ich hier drin, das ist es, was sie gegen mich in der Hand haben: eine gewalttätige Vergangenheit. Weil ich versucht habe, meine Schwester vom Weinen

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