Letzte Beichte
Trauernden erbebten – ein Abschied von dem Toten, dessen Leichnam in einem kleinen schwarzen Transporter davongefahren wurde.
Jeremy wartete unter dem Sicherheitsnetz, während andere Gefangene für einen Transport zusammengetrommelt wurden. Als alle beisammenstanden und gezählt worden waren, folgte er dem Beamten durch den zementierten Innenhof in Halle D. Hinter einer unscheinbaren Tür begann fast schon die wirkliche Welt. »Bagshaw!« schrie ein Aufsichtsbeamter. Jeremy gab sich zu erkennen und ließ sich in das Befragungszimmer führen.
Die Frau ist etwa im gleichen Alter wie Amanda, dachte Jeremy – vielleicht achtundzwanzig. Dichtes, gestuftes Haar und ein bezauberndes Lächeln. Ihr Gesicht war schön – frisch und ehrlich –, und im Vergleich zu den Anwälten in den anderen Zimmern trug sie überraschend lässige und modische Kleidung: eine gutgeschnittene Jeans, ein hübsches Hemd, eine gutsitzende Jacke sowie Stiefel mit einem Ansatz von Absatz.
»Ich heiße Krissie Donald. Wie läuft es so bei Ihnen?« fragte sie. Sie schüttelte ihm die Hand und sah ihm in die Augen, ehe sie sich setzten. Krissie erklärte ihm, dass das Gericht ein Gutachten angefordert habe. Sinn des Gutachtens sei es, dass man gleich das Strafmaß festlegen könne, falls er im Prozess für schuldig befunden werde. Sie könne nicht über die Straftat mit ihm sprechen, nur über die Hintergründe. Und sie könne den Bericht nur schreiben, wenn er einwillige. Ob er einwillige?
Jeremy war von ihr überrascht. Das Gefängnispersonal, mit dem er zu tun gehabt hatte, trug entweder Handschuhe oder führte sorgfältig choreografierte Bewegungsabfolgen aus, um jedes Händeschütteln zu vermeiden (eine Hand am Türgriff, die andere auf den Stuhl deutend: »Setzen Sie sich, Mr. Bagshaw«). Er verstand durchaus den Grund: Die meisten Hände im Knast klebten rund um die Uhr an feuchten Penissen. Er hätte auch keine Lust gehabt, diese Hände zu schütteln.
Aber Krissie Donald hatte ihm die Hand gegeben, und es war nett gewesen, eine warme, wenn auch ziemlich verschwitzte Handfläche an seiner Handfläche zu spüren, als wäre er ein ganz normaler Mensch.
Krissie fragte ihn, wie sie ihn ansprechen solle. Ob »Jeremy« in Ordnung sei. Sie fragte, ob er innerlich mit seiner Situation zurechtkäme, ob er sich okay fühle, äße, schlafe. Ob er Besucher habe. Ob es Neuigkeiten von zu Hause gebe. Sie fragte Sachen, die sie besser nicht gefragt hätte, denn wenn er sie beantwortete, würde er weinen müssen, und Weinen ging in Sandhill gar nicht. Weinen war das Gegenteil von allem, was ging.
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9
Mann, war es aufregend gewesen, diesen Jeremy Bagshaw zu treffen. Wie das erste Erröten bei einer Liebesaffäre – genauso intensiv und intim. Wenn ich meine Bürokumpel gefragt hätte, hätten sie mir gesagt, dass die Aufregung sich bald legen würde. Wie bei einer Liebesaffäre. All die wilden Geschichten würden ihre Würze verlieren, und schließlich würde ich mich dabei ertappen, den Delinquenten am liebsten sagen zu wollen, dass sie endlich zum Schluss kommen sollten. Oder mir auszumalen, wie ich die Tür da drüben hinter mir schließen würde. Aber das wusste ich damals alles noch nicht.
Was an Jeremy Bagshaw sofort auffiel, war sein extrem gutes Aussehen. Ich hätte darauf wetten mögen, dass er von den 956 Gefangenen in Sandhill der einzige mit einem gesunden Gewicht war – nicht vom Heroin zerfressen oder vollgestopft mit den gebratenen Kohlehydraten, die es ersetzten. Anders als viele andere schien er nicht auf das zweimalige Duschen pro Woche zu verzichten: Seine Haare waren nicht fettig, seine Fingernägel sauber, seine Augen hell und ohne Knies. Alles in allem war er ein ausgesprochen hübscher Typ. Erinnerte mich ein bisschen an Russell Crowe.
Es war auch ein deutlich angenehmeres Gefühl, sich mit Jeremy zu unterhalten, als neben dem lügenden Ekelpaket von Kinderschänder zu sitzen. Keine schmierige Ausstrahlung. Kein krankhaftes Anglotzen, bei dem du mit den Augen ausgezogen wirst. Ich hatte ihm sogar die Hand gegeben, ohne an die Legionen von Hepatitis-Erregern zu denken, die auf Sandhill im Angebot waren. Und als ich ihm in die Augen schaute, sah ich etwas Verletzliches und Verängstigtes.
Jeremy saß seit zwei Wochen in Untersuchungshaft. Mit anderen Worten: Er hatte zwei Wochen in einer schäbigen Zelle verbracht und war mit einer ganzen Reihe von unterschiedlichen ›Kopiloten‹ dreiundzwanzig Stunden am Tag
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