Letzte Beichte
zufälligerweise der Stiefvater meiner engsten Kindheitsfreundin Sarah war. Jahrelang hatte dieser Mann das Leben der ihm anvertrauten Kinder zerstört. Bei mir hatte er es fast geschafft, und bei Sarah hatte er durchschlagenden Erfolg gehabt. Ich fand es schrecklich, dass man Chas so schwer bestraft hatte.
Nach seiner vorzeitigen Entlassung wohnte Chas während der Bewährungszeit bei seinen Eltern in Edinburgh. Das waren piekfeine, todernste Menschen, die wollten, dass Chas sein Leben änderte und sich einen anständigen Beruf und eine andere Freundin suchte. Rebellisch wie er war, malte er weiter und fuhr so oft wie möglich zu mir.
Als Chas verkündete, dass seine Bewährungszeit abgelaufen sei und er folglich wohnen könne, wo er wolle, bat ich ihn, bei uns einzuziehen. Er gab seinen besorgten Eltern einenAbschiedskuss und stand mit zwei großen Koffern vor unserer Tür. Von da an machte sich Chas jeden Morgen auf den Weg zu dem Atelier, das er sich in den Räumen einer Bildhauergemeinschaft in Hillfoot gemietet hatte, und verbrachte den ganzen Tag damit, die Skizzen auszuarbeiten, die er auf der ganzen Welt gemacht hatte. Nach unserer Unizeit, als wir in einer WG gewohnt hatten, war er jahrelang gereist und hatte sich durch alle Breitengrade skizziert. Aber seit er zurückgekehrt war und wir ein Paar geworden waren, hatte er seine Skizzen immer vor mir versteckt. Sie seien eine Überraschung, sagte er. Er würde sie mir zeigen, sobald er eine Ausstellung habe.
Es dauerte einige Zeit, bis ich den Tod meiner besten Freundin Sarah akzeptieren konnte. Wenn ich an sie dachte, kam ihr Name immer nach den Worten »die arme«. Die arme Sarah hatte eine schreckliche Kindheit gehabt. Die arme Sarah hatte nicht schwanger werden können. Die arme Sarah war von ihrem Ehemann Kyle mit ihrer besten Freundin betrogen worden – mir.
Die arme Sarah hatte sich umgebracht.
Nachdem ich monatelang mit einem Gefühl der Übelkeit in der Magengegend aufgewacht war und das Gesicht der armen Sarah über meinem Bett geschwebt hatte, ging es mir allmählich besser. Ich fand, dass ich so ziemlich alles hatte, was eine junge Frau sich vom Leben erhoffen kann:
Einen hübschen, gesunden Dreijährigen, der sich zur Melodie der Teletubbies Lieder wie dieses ausdachte:
Mum und Daddy
Mum und Daddy
Essen rohes Mett
Mum und Daddy
Mum und Daddy
Sind seeeehr nett!
(Hab gesehn, wie sie sich geküsst haben … IGITT !)
Einen liebevollen Partner, der immer die Zeit und die Kraft hatte, mich zu unterstützen und zu trösten. Der wusste, wieman meine negativen Gedanken in positive verwandeln konnte und meine schlechte Laune in gute. Der immer die richtige Antwort fand, wenn ich ihn – manchmal mitten in der Nacht – fragte, ob alles gutgehen würde. »Ja, meine Kleine«, antwortete er dann. »Alles ist perfekt, weil ich dich mehr als alles auf der Welt liebe. Sogar mehr als Pizza.«
(Und Chas liebte Pizza wirklich sehr.)
Ich hatte wundervolle, großzügige Eltern, die mit ihren Wochenendausflügen pausierten und zwei ihrer kostbaren Zimmer an uns abgetreten hatten, damit ich auf die richtige Spur zurückfand.
Und ich hatte eine unheimlich gute Frisur. Jahrelang hatte ich mein Haar gewellt getragen und es meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden, damit es mir nicht im Weg war. Doch eines Tages, als das schöne Bauchgefühl Oberhand über das üble Bauchgefühl gewann, entschied ich, dass es an der Zeit für einen Stufenschnitt sei. Ich rief Jenny an, die Friseurin der Stars (und meine), und sie schnitt sie mit Vergnügen stufig. Danach sah ich wie strahlende fünfunddreißig aus. Tagelang blieben alle stehen, um mir zu sagen, wie toll ich aussähe.
Die neue Frisur markierte das Ende einer alten Lebensphase und den Anfang einer neuen. Es wurde Zeit, dass ich wieder in meine eigene Wohnung zog. Es wurde Zeit, dass ich mir einen Job suchte. Ich war wieder bereit, da rauszugehen – ins richtige Leben.
Meine Eltern waren wohl auch bereit. Meine Mutter vermisste ihr Bastelzimmer, durch das jetzt Eisenbahnschienen aus Holz führten und in dem das Kinderbett stand. Und mein Vater vermisste das Gästezimmer, in dem Chas und ich schliefen und in das er sich früher immer geflüchtet hatte, wenn meine Mutter mitten in der Nacht Zappelfüße bekommen hatte.
Ich gab meinen Mietern einen Monat im Voraus Bescheid, und wir begannen, unsere Sachen zu packen und alles vorzubereiten, damit wir pünktlich zum Umzug unser Zeug aus der Lagerhalle holen
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