Letzte Beichte
»Wir werden das Meer malen.«
Chas hatte Pizzas gemacht. Daher das ganze Gerümpel überall und das Geschirr in der Spüle: Anders als die meisten vernünftigen Bewohner der westlichen Welt, die sich ihre Pizzas entweder liefern lassen oder fertig im Supermarkt kaufen, machte Chas seine Pizzas nämlich komplett selbst. Das bedeutete: zwei Stunden Einkaufen, eine Stunde Kneten, eine Stunde Werfen und Rollen, eine Stunde Belag schnippeln und eine Stunde zum sorgfältigen Verteilen der Zutaten auf dem Teig. Es bedeutete ferner, dass alle Arbeitsflächen in der Küche mehlbedeckt waren, sämtliches Geschirr und alle Besteckteile dreckig herumlagen (statt in der Spülmaschine), alle Radios in der Wohnung liefen (Chas hörte beim Kochen gern Radio) und dass ich vor halb elf Uhr abends nichts zu essen bekommen würde. Als ich später trotz Magendrückens einzuschlafen versuchte, fragte ich mich, wann ich Chas am besten sagen solle, dass ich Pizza hasse.
Als Robbie spätabends endlich eingeschlafen war, schaute ich ihn nachdenklich an und versuchte, mir einen kleinen Jungen in seinem Alter vorzustellen (jemand, der sich nicht einmal die Schuhe anziehen kann), der einen anderen Menschen tötet. Falls Robbie ein drei Wochen altes Baby ermordet hätte, wüsste er dann, was er getan hatte? Wäre er überhaupt dazu in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen? Könnte man es einen Mord nennen? Wie würde ich damit fertig werden, wenn mein eigenes Baby auf diese Weise gestorben wäre?
Am nächsten Tag brachte ich das Gutachten über James Marney zur Poststelle. Als ich zurück ins Büro kam, war Robert vor Lachen ganz blau angelaufen: Er hatte gerade ein Attest von seiner Hausärztin bekommen. Robert war fast einen Meter neunzig groß, und sein Schreibtisch verursachte ihm seit Monaten Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Er hatte Hilary gefragt, ob er einen größeren Schreibtisch bekommen könne, und Hilary hatte mit der Verwaltungsbeamtin der Strafjustizbehörde gesprochen, die ihrerseits mit ihrer Vorgesetzten gesprochen hatte, welche ein Formular ausgefüllt und an ihreGruppenleiterin weitergeleitet hatte. Die wiederum hatte das Formular an einen Brief an den Typen getackert, der für den Behindertenfonds zuständig war, woraufhin der sich die Richtlinien und Bestimmungen bezüglich spezieller Büroausstattungen durchlas, die bis dahin vorliegende Korrespondenz kopierte, eine Besprechung mit seinem Chef anberaumte und Robert telefonisch über das Resultat informierte: »Ja, Sie können einen großen Schreibtisch aus den Mitteln des Behindertenfonds bekommen, aber wir benötigen ein ärztliches Attest.«
Also hatte Robert mit seiner Hausärztin gesprochen, einer liebenswürdigen und humorvollen Frau Ende zwanzig. Das ärztliche Attest war soeben mit der Post eingetroffen und der Grund für Roberts gesundheitsschädliches Gelächter. Er reichte mir das Blatt Papier. Darauf stand: »Hiermit wird bescheinigt, dass Mr. Robert Brown großgewachsen ist.«
Aber genug der Heiterkeit. Ich musste nach Sandhill.
Während ich auf Jeremys Eintreffen wartete, wurde mir klar, dass Danny und Robert recht hatten. Es war dumm von mir gewesen, die Informationen über die Straftat zu ignorieren, und so brütete ich über der einzigen Unterlage, die mir zur Verfügung stand – der Anklageschrift:
JEREMY ANDREW BAGSHAW , Gefangener in Sandhill, Glasgow, Sie werden auf Weisung Ihrer Majestät Anwalt, des sehr ehrenwerten LORD JOHNSTONE VON LOCHABER , beschuldigt, am Sonntag, dem 6. April, in The Lock House bei Crinan, Argyll, die Bridget McGivern angriffen, ihre Brüste mit einem Messer oder vergleichbaren Instrument abgetrennt, wiederholt auf ihren Rumpf sowie ihren Hals mit einem Messer oder vergleichbaren Instrument eingestochen und sie ermordet zu haben.
Es traf mich wie ein Schlag. Während ich auf sein Eintreffen wartete, wurde mir klar, dass Jeremy Bagshaw sehr wohl gut aussehen und aus guten Verhältnissen kommen konnte, dass er sehr wohl verliebt sein und eine herzzerreißende Kindheit gehabt haben konnte, und dass er trotzdem beschuldigt wurde, die Brüste einer Frau abgeschnitten und diese Frau in Rumpf und Hals gestochen zu haben. Und vermutlich hatte er mit blutverschmierten Zähnen dagestanden und zugesehen, wie das Blut auf alle Wände des Hauses in Crinan gespritzt war …
»Guten Tag.«
Da war mein Mörder. Er hatte ein blaues Auge, und er sah nicht wie jemand aus, der eine Frau erstechen und ihr die Brüste
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