Letzte Beichte
wurde mir klar, dass Danny vollkommen blind war.
Danach konnte ich meinen Blick kaum noch von ihm wenden. Wie er tippte, Brailleschrift las, Nummern in seinen winzigen elektronischen Terminkalender tippte, ans Telefon ging und sprach.
»Er ist also zu krank, um herzukommen, Mrs. Thom?« sagte er zu der Mutter seines säumigen Neunuhrtermins. »Heißt das, dass er stirbt? Verblutet? Dass ihm jemand den Kehlkopf zerschossen hat?« (Eine gedämpfte Antwort.) »Nein? Dann holen Sie ihn bitte an den Apparat.« (Mehr Gemurmel.) »Na, dann wecken Sie ihn halt!«
Danny wartete.
»Peter, letzte Woche habe ich Sie zum zweiten Mal förmlich verwarnt, weil Sie am Empfang aggressive und rassistische …«
Noch eine Pause.
» PETER ! Es ist irrelevant, ob Ihre Sozialarbeiter von Asylanten verheizt werden oder nicht. Tatsache ist, dass Sie geliefert sind. Sie wandern wieder in den Bau.«
Sprach’s und legte den Hörer auf. Mein neuer blinder Held sog noch einmal am Nikotininhalator und setzte unser Gespräch fort.
»Ist hübsch, das Oberteil, aber es passt nicht zu deiner Hose.«
Mein dritter Kollege war eine Kollegin: groß, ernst und über fünfzig, mit einem Oberschichtakzent, der einen Beiklang von ›Ich mache den Job aus Nächstenliebe‹ hatte. Sie hieß Penny und war ungeheuer beschäftigt mit ihrem Papierkram. Ihr Gesicht war ganz rot und verschwitzt vor lauter Anstrengung.
Hilary, die Chefin, war eine der drei Personen, die mich bei meinem Vorstellungsgespräch interviewt hatten. Während ihre männlichen Vorgesetzten wenigstens ein Lächeln unterdrücken mussten, als ich meine unpassenden Witzchen riss, hatte sie keine derartigen Schwierigkeiten gehabt. Ihr Lächeln blieb den Klienten vorbehalten. Und es bedeutete keineswegs Heiterkeit.
Nach einem ziemlich entspannten Vormittag mit meinen drei Kollegen rief mich Hilary in ihr Büro, das direkt gegenüber unserem lag. Meine erste Kontrollsitzung stand an, und sie drehte sich größtenteils um die Terminfindung für zukünftige Kontrollsitzungen. Nachdem wir zwölf weitere Treffen im Zweiwochentakt vereinbart hatten, sprach Hilary eine geschlagene Stunde lang ohne Punkt und Komma. Sie genoss den Klang ihrer Stimme so sehr, dass ihr Mund vor Freude Schaumbläschen bildete.
»Transparenz ist von größter Wichtigkeit«, sagte sie, »für unsere nachhaltige Form der Fürsorge, bei der wir kompetente Überwachung mit einem therapeutischen Ansatz kombinieren, welcher die mannigfaltigen im Kontext der Rückfallgefahr auftretenden Probleme aufgreift und zu beheben trachtet.«
Ich nickte in angemessenen Abständen und gab mir größte Mühe zu verstehen, worüber sie da um Himmelswillen eigentlich sprach, und ich dankte dem Herrn, als sie mir zwei gerichtliche Gutachtenanfragen aushändigte und mich aus ihren Fängen entließ.
Im Büro befestigte Robert Bonbonpapier an Dannys »Mauer der Scham«, und Penny verschob schnaufend und keuchend dicke Papierstöße auf ihrem Schreibtisch.
Ich setzte mich an meinen wackeligen Schreibtisch und sah mir die erste Gutachtenanfrage an: einen Bericht über den familiären Hintergrund von Jason Marney. Obendrauf klebte ein Haftzettel: »Überfällig! Fallbespr. Sandhill, 16 Uhr.« Jason Marney war ein neununddreißigjähriger Witwer und hatte wegen anstößiger und triebhafter Handlungen an seinen Kindern zwölf Monate hinter Gittern verbracht. Scheiße, ein Sexualtäter. Ich hatte gehofft, diesen Typen aus dem Weg gehen zu können. Er hatte vier Straftaten begangen – zwei sittenwidrige Entblößungen vor zehn und acht Jahren, eine sittenwidrige Tätlichkeit in einem Schwimmbad vor zwei Jahren und die besagten anst. und triebhftn. Hdlgen. Laut Anklageschrift hatte er seine damals vier und sechs Jahre alten Jungen dazu gezwungen, Hardcore-Pornos mit ihm anzusehen und seine Genitalien anzufassen. Kotzwürg. Ernsthaftes, schwerwiegendes Kotzwürg, bei dem sich mir der Magen umdrehte. Immerhin, so tröstete ich mich, war es ein einfaches Gutachten. Mr. Marney hatte angegeben, nach seiner Entlassung bei seinen Eltern in Toryglen wohnen zu wollen. Ich musste lediglich überprüfen, ob die Unterbringung sicher und angemessen war. Dann musste ich Hilary anflehen, mich nach seiner Entlassung nicht als seine Aufsichtsbeamtin einzusetzen. Zeitlich war es zwar ziemlich knapp, aber wahrscheinlich konnte ich seinen Eltern noch vor der Fallbesprechung um 16 Uhr einen Besuch abstatten.
Die zweite Gutachtenanfrage bezog sich auf einen
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