Letzte Bootsfahrt
ihm, dass die eine Stunde, die ihm die Frau Doktor genehmigt hatte, gerade ausreichen würde.
Trotzdem war sie schon da, als er eintraf. Gasperlmaier sah es an dem weißen Audi mit Liezener Kennzeichen, der vor dem Posten geparkt war. Ein wenig, so musste er sich eingestehen, klopfte sein Herz. Nicht, dass er sich etwa in die Frau Doktor verliebt hätte, seine Christine reichte ihm voll und ganz, aber ein bisschen näher ging ihm die Anwesenheit der Frau Doktor schon immer. Gasperlmaier hoffte nur, dass es nicht zu einer unangenehmen Begrüßungsküsserei kommen würde, das wäre ihm vor dem Friedrich peinlich gewesen. Überhaupt war ihm dieses Abgebussel zuwider, das in den letzten Jahren immer mehr in Mode gekommen war. Warum sollte er zum Beispiel seine Cousine Flora, die er schon seit vierzig Jahren kannte und noch nie geküsst hatte, warum sollte er die jetzt bei einer Familienfeier plötzlich abbusseln?
„Hallo, Gasperlmaier!“ Die Frau Doktor schien sich ehrlich zu freuen, ihn wiederzusehen, ließ es aber bei einem kräftigen Händedruck bewenden. Sie war einen Kopf kleiner als Gasperlmaier, der selbst kein Riese war, und trug ihr langes, dunkles Haar offen. Die orangeroten Strähnen darin, so stellte Gasperlmaier fest, leuchteten immer noch kräftig heraus. Was Gasperlmaier aber am besten an ihr gefiel, waren ihre vollen, sinnlichen Lippen. Und natürlich ihre zupackende Persönlichkeit und ihre Fähigkeit, innerhalb von Sekundenbruchteilen in jeder Situation die richtigen Worte in ausreichender Zahl zu finden. Eine Fähigkeit, die Gasperlmaier völlig fehlte. Er dachte zwar viel nach, bis aber seine Gedanken zu einem grammatikalisch einigermaßen brauchbaren Satz zusammenfanden, hatte sein Gegenüber meist schon weitergesprochen, ohne dass er zu Wort kam. Versuchte er, schlagfertig zu formulieren, kam es oft vor, dass seine Sätze unvollständig blieben.
Die Frau Doktor wurde ihrer Rolle auch gleich gerecht. Sie ging zur Pinnwand, die, wie Gasperlmaier erstaunt feststellte, gänzlich freigeräumt worden war. Gestern waren dort noch Einladungen zu Polizeisportveranstaltungen von vor zwei Jahren gehängt, weil niemand Ursache gefunden hatte, sie wegzuräumen. Sie hielt ein Foto gegen die Pinnwand und knallte mit Wucht eine Stecknadel hinein, um es festzumachen. „Ferdinand Breitwieser. Zweiundsiebzig Jahre alt, geboren in Bad Aussee, wohnhaft in Altaussee. Immobilienmakler, der zwar seiner Tochter die Firma schon übergeben hat und offiziell in Pension ist, jedoch immer noch mitarbeitet. Das Büro der Firma ist in einer Villa in Grundlsee, wo auch die Tochter mit ihrem Mann wohnt. Keine Vorstrafen, keine nennenswerten Schulden, beträchtliches Vermögen. Getötet heute zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr, Todesursache Ertrinken. Es hat vor seinem Tod einen Kampf gegeben, die Leiche weist Schürfwunden und Hämatome auf. Letztendlich hat der Täter den Kopf in die Klomuschel gedrückt und wahrscheinlich so lange die Spülung betätigt, bis Herr Breitwieser ertrunken ist.“
Gasperlmaier grauste es. Gab es etwas Schrecklicheres, als im Klomuschelwasser zu ertrinken? Andererseits, so dachte er, war es wenigstens sauberes Gebirgswasser. So gesehen hätte es den Herrn Breitwieser schlimmer erwischen können.
Die Frau Doktor pappte ein weiteres Foto an die Pinnwand. „Gerlinde Breitwieser. Siebenundfünfzig Jahre alt, nicht berufstätig, also Hausfrau. Keine Vorstrafen, keine aktenkundigen Geisteskrankheiten, außer, dass sie vor mehr als zehn Jahren wegen Depressionen behandelt worden ist. Hat wohl der Lebensinhalt gefehlt, nachdem die Tochter selbstständig geworden ist.“
Gasperlmaier nahm seine Mütze ab und legte sie auf den Schreibtisch neben sich. „Mit der Frau“, meinte er, „ist aber trotzdem nicht alles in Ordnung. Die hat dauernd von Engeln geredet, und von Chakra und energetisiertem Wasser. Und dass ihr Mann fortgegangen ist, oder heimgegangen. Also mir war die unheimlich.“ Die Frau Doktor nickte. „Herr Kahlß hat mir schon von dem Eindruck erzählt, den sie bei Ihnen hinterlassen hat. Wir werden sie natürlich genau unter die Lupe nehmen. Meistens sind solche Leute in Kreisen, sozusagen losen Gruppierungen organisiert, sie beziehen ihr Wissen in der Regel über Kurse, Seminare, oder halt irgendwelche Gurus, die ihnen das dann vermitteln. Da müssen wir sicher genauer hinschauen. Sie war also“, die Frau Doktor wandte sich um und klopfte mit dem Zeigefinger auf das Foto,
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