Letzte Bootsfahrt
„Sie werden sich doch nicht vor einer pensionierten Lehrerin fürchten!“ Die Frau Doktor, so dachte Gasperlmaier bei sich, würde bei der Mali noch ihr blaues Wunder erleben. „Ja, auf Wiedersehen dann, Frau Gasperlmaier!“, sagte die Frau Doktor. „Auf Wiedersehen!“, antwortete die Mutter ein wenig steif. „Sag, Franzl!“, rief sie ihm noch nach, als er schon in der Tür stand. „Haben die Kinder nicht schon Osterferien? Schick sie doch einmal herüber zu mir! Ich mach ihnen ein Gulasch!“ Gasperlmaier nickte, ohne sich die Mühe zu machen, der Mutter zu erklären, dass der Christoph keine Ferien mehr hatte, weil er seinen Zivildienst leistete. Das war auch so ein Thema – jahrelang hatte die Mutter die Kinder mit üppigen Fleischgerichten geködert, während die Christine größten Wert auf ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse und Obst legte. Die Christine, klug wie sie war, hatte keinen Krieg daraus gemacht. „Ein-, zweimal im Monat wird ihnen die Küche deiner Mutter schon nicht schaden“, hatte sie meist gesagt. Und Gasperlmaier hatte an diesen Abenden Salat essen müssen.
Das mulmige Gefühl, das Gasperlmaier schon die ganze Zeit einen flauen Magen beschert hatte, wurde heftiger, als sie vor dem Haus der Mali Schreckeneder anhielten. Es war ein kleines Häusl, ganz aus Holz, aber alles daran und drumherum war so geputzt, gestrichen und blankgescheuert, dass Gasperlmaier sich fragte, wie eine so alte Frau noch so viel Energie haben konnte. Im Garten standen die Büsche und Bäume in Reih und Glied wie beim Militär, exakt auf die gleiche Höhe gestutzt. Die Apfelbäume sahen fast symmetrisch aus, am Ende beschnitt sie die Mali ganz exakt einer bestimmten Regel folgend. Auf den Stufen zur Eingangstür kein Stäubchen. Gasperlmaier ertappte sich dabei, wie er seine Schuhsohlen musterte, bevor er vom gekiesten Weg auf die betonierte Fläche vor den Eingangsstufen trat. Er ließ die Frau Doktor vorgehen, deren Absätze deutliche Schmutzspuren auf den Stufen hinterließen. Vor der Tür hingen links an der Mauer, gerade ausgerichtet, eine Mistschaufel und ein Bartwisch.
Die Mali hatte so eine altertümliche Klingel, die in der Tür montiert war. Man musste fest und ausdauernd an einem Knopf drehen, damit sie ein schepperndes Geräusch von sich gab. Die Mali riss die Tür auf, nur wenige Sekunden nachdem die Frau Doktor mehrmals energisch gedreht hatte. „Was machen S’ denn so einen Lärm?“, herrschte sie die Frau Doktor an, die zum ersten Mal, seit Gasperlmaier sie kennengelernt hatte, ein wenig zurückwich. „Und du, Franzl, was willst denn du? Ich brauch keine Polizei im Haus! Schaut’s, dass ihr weiterkommt!“ Schon wollte sie ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen, doch die Frau Doktor hatte sich schnell wieder gefangen und hielt ihr mit der einen Hand den Dienstausweis unter die Nase. Mit der anderen stoppte sie den Schwung der zufliegenden Haustür. „Kriminalpolizei, Frau Schreckeneder. Wir möchten Sie als Zeugin befragen. Es wäre nett, wenn Sie uns ein paar Fragen beantworten würden. Wird auch nicht lange dauern.“
Die Mali zögerte kurz, ließ aber Gasperlmaier keine Sekunde aus den Augen. Mit missbilligenden Blicken maß sie die Schuhe der Frau Doktor. Dann ließ sie die Tür los. „Kommt’s halt herein. Aber Schuhe aus! Mit den Stöckelschuhen, da kommt mir schon gar keine herein! Die ruinieren mir das Linoleum!“ Die Mali, so dachte Gasperlmaier bei sich, war nicht die Einzige, die Vorbehalte gegen Stöckelschuhe hatte. Seine Tante Theres vermietete seit den sechziger Jahren in ihrem Haus Zimmer an Sommerfrischler, und noch vor wenigen Jahren hatte sie ein selbstgemaltes Verbotsschild im Windfang hängen gehabt, auf dem ein Stöckelschuh mit einem dicken roten Balken durchgestrichen war. Der Tourismusverband hatte ihr das Schild mühsam ausreden müssen. Man hatte ihr gedroht, niemanden mehr an sie zu vermitteln. Das Stöckelschuhverbot sei nicht gastfreundlich, zudem unscharf definiert und nicht zu überwachen. Außerdem sei es illegal.
Die Frau Doktor warf Gasperlmaier einen fragenden Blick zu. Der antwortete, indem er mit einem Schuh auf die Ferse des anderen trat und ihn so vom Fuß zog, ohne die Schuhbänder zu öffnen. Er sah zu Boden und hoffte, dass er heute Früh keine löchrigen Socken angezogen hatte. Kurz danach stand die Frau Doktor in Strümpfen neben ihm im Wohnzimmer der Mali. Die machte keine Anstalten, ihnen eine Sitzgelegenheit anzubieten. „Wir
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