Letzte Bootsfahrt
Er hätte schon daran denken können, dass zu Hause ein Essen auf ihn wartete, statt sich bei der Mutter den Bauch mit ungesundem Zeug vollzustopfen. Aber wenn der Hunger einmal zuschlug, dann war es bei ihm mit dem Denken oft nicht so weit her, musste er sich selber eingestehen.
„Weil die Kinder nicht da sind“, rief die Christine aus der Küche, „gibt’s einen guten Salat! Dafür trinken wir dann ein Bier dazu!“ Sie brachte die Teller herein, und Gasperlmaier stand nochmals auf, um das Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Als er sich bei Tisch niederließ, stellte er fest, dass die Christine genau das gekauft hatte, worüber sich die Mutter so aufregen hatte müssen. Auf dem Salat thronten Rohschinken, ein paar Scheiben Mozzarella und Pinienkerne. Gasperlmaier nahm sich vor, den Salat ohne Brot zu essen, damit er seinem vollen Magen nicht zu viel zumutete.
Ohne allzu große Lust nahm er das Grünzeug in Angriff. „Magst du kein Brot dazu?“ Die Christine hielt ihm das mit Salzstangerln und Semmeln gefüllte Körbchen hin. „Schon!“, beeilte sich Gasperlmaier zuzustimmen. Er wollte ja nicht auffallen, und er musste sich eingestehen, dass es für ihn höchst ungewöhnlich gewesen wäre, einen Salat ohne ein oder zwei Salzstangerln als Unterstützung hinunterzuschlingen. Er bemühte sich, einfach nicht an den vollen Magen zu denken.
Mit einer Frage nach ihrem Wochenende, so fiel ihm ein, konnte er womöglich ablenken. „Du hast mir noch gar nicht viel über Salzburg erzählt!“, ermutigte er die Christine. „Da gibt’s gar nicht so viel zu erzählen. Es war zwar lustig, aber ich hab halt doch gemerkt, dass wir uns schon sehr voneinander entfernt haben. Die meisten verstehen das nicht, dass ich ein ganz normales bürgerliches Leben führe und mir das auch so gefällt.“ Gasperlmaier waren die Freunde der Christine aus der Studienzeit sowieso nicht geheuer. Zwei davon hatte er ja schon kennenlernen dürfen. Der Beda, ein ehemaliger Lehrer, der jetzt mittelalterliche Gesänge zum Besten gab, hatte sich fast schon bei ihnen eingenistet gehabt. Und diese Brigitte war auch schon einmal da gewesen. Viel zu stark geschminkt, und die hatte noch dazu den Nerv gehabt, sich darüber lustig zu machen, dass die Christine ein Dirndl und er eine Lederhose getragen hatte, als sie einen Abend zusammen beim Sommerfest verbracht hatten. Das käme für sie nie in Frage, hatte sie gemeint. Das sei ja ein politisches Statement, die Tracht, und wo sie daheim sei, würde man da gleich an den rechten Rand gerückt. Die Christine hatte ihr zwar geduldig erklärt, dass man die Tracht keinesfalls irgendwelchen politischen Spinnern überlassen durfte, und dass das im Ausseerland schon gar nicht der Fall sei, weil selbst in der Nazizeit sowohl die Widerstandskämpfer als auch – leider – die Nazis die Tracht getragen hatten. Gasperlmaier hatte der ausufernden politischen Debatte, die darauf gefolgt war, nicht in allen Einzelheiten zugehört, aber sympathisch war ihm die Brigitte auf jeden Fall nicht gewesen.
„Viele“, sagte die Christine, „wollen einfach nicht verstehen, dass Tradition nichts mit Rückständigkeit zu tun hat. Gerade heute, wo jeder von Nachhaltigkeit schwafelt – was, bitte, ist nachhaltiger als ein Trachtengwand? Das kann man über Generationen weitervererben. Und die Katharina, zum Beispiel, die hat zur Erstkommunion und zur Firmung die Dirndln getragen, die ich selber damals angehabt habe. Das sollte doch eigentlich zeitgemäß sein, wo eh jeder über die Wegwerfgesellschaft jammert.“ Zur Untermalung ihrer Ausführungen fuchtelte die Christine mit ihrer Gabel in der Luft herum, dass sich Gasperlmaier vorsorglich ein wenig duckte. Bei der Christine passierte es gelegentlich, dass sie im Eifer einer Debatte, zu der er selbst meist nur wenig beitrug, sogar aufs Essen vergaß.
Gasperlmaier war zufrieden mit sich, dass er den Salat samt einem Salzstangerl hinuntergebracht hatte. Restlos übersättigt lehnte er sich zurück. „Magst noch einen Käse?“, fragte die Christine. „War vielleicht ein bisschen wenig für einen, der den ganzen Tag geschuftet hat.“ Gasperlmaier winkte ab. „Nein, danke! War wirklich genug! Ich muss ja auch ein wenig auf meine Linie schauen.“ Zur Untermalung griff er sich an den durch das viele Essen wohlgerundeten Bauch. Die Christine aber maß ihn mit argwöhnischen Blicken. „Ich weiß nicht, Gasperlmaier“, sagte sie. „Entweder du wirst mir krank, oder du
Weitere Kostenlose Bücher