Letzte Bootsfahrt
sich noch ein Stück Geselchtes herunter. Als die Mutter hinuntergeschluckt hatte, blickte sie starr an der Frau Doktor vorbei zum Fenster hinaus. Draußen gab es nicht viel zu sehen, denn die Dunkelheit hatte bereits alle Konturen im Garten verschluckt. „Ich habe keine Ahnung, wie die Mali auf so was kommt. Sie ist wahrscheinlich schon ein bissl senil. Und außerdem war sie doch zu der Zeit auf der Lehrerbildungsanstalt. Wahrscheinlich hat sie da was verwechselt. Ist ja mehr als fünfzig Jahre her.“
Gasperlmaier lief ein Schauer über den Rücken. Hoffentlich hatte die Frau Doktor nicht gemerkt, dass sich die Mutter jetzt verraten hatte. Wieso hätte sie denn sonst von „der Zeit“ reden können, wenn sie keine Ahnung davon hatte, dass die Friedl einmal verschwunden war? Woher konnte sie wissen, dass es um einen Zeitpunkt ging, zu dem die Mali schon auf der Lehrerbildungsanstalt gewesen war? Gasperlmaier riskierte einen Seitenblick zur Frau Doktor hinüber. An ihrem Gesicht konnte er nichts erkennen, das ihm verriet, ob sie den kleinen Lapsus der Mutter auch bemerkt hatte.
Die Frau Doktor war mit ihrem sehr dünnen Butterbrot fertig und erhob sich. „Gasperlmaier, wir machen für heute Schluss. Bemühen Sie sich nicht, bleiben Sie ruhig noch ein wenig da und jausnen Sie zu Ende. Auf Wiedersehen, Frau Gasperlmaier!“ Sie nahm noch einen Schluck aus dem Bierglas, schnappte ihre Handtasche und war schon draußen. Sekunden später hörte man die Haustür ins Schloss fallen.
Eine Weile herrschte Stille am Tisch. Die Mutter aß und sah zum Fenster hinaus. Gasperlmaier machte sich über das restliche Geselchte her und schwieg ebenfalls, versuchte aber, den Blickkontakt mit der Mutter zu vermeiden. „Ist vielleicht nicht fein genug, der Quargel und das Geselchte, für die Frau Doktor aus der Stadt“, murmelte die Mutter düster. „Mein Gott, Mama“, bemühte sich Gasperlmaier, sie zu verteidigen. „Das mag halt nicht jede. Das sind Sachen, weißt du, die eher die älteren Leute essen. Die Christine …“ Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. „Ja, ja, ich weiß schon. Unser Essen ist ja euch auch nicht gut genug. Italienisches Zeug muss es sein, ein Rohschinken, und ein Mozzarella. Die Herrschaften sind sich ja zu fein für das, was bei uns wächst.“ Gasperlmaier fand die Mutter höchst ungerecht. Gerade die Christine legte Wert darauf, dass Produkte aus der Region gegessen wurden, die kurze Transportwege hinter sich hatten. In der Schule veranstaltete sie sogar jedes Jahr ein Kurzstreckenfrühstück, bei dem für jedes Lebensmittel der Transportweg genau dokumentiert war. Die Kinder lieferten dazu Zeichnungen und Wegberechnungen.
Ein wenig wortkarg beendeten sie ihre Jause. „Soll ich dir noch beim Geschirrabwaschen helfen, Mama?“, bot Gasperlmaier an, um das Eis zu brechen. Ohne großen Erfolg. „Glaubst leicht, ich kann die paar Teller und Gläser nicht mehr allein abwaschen?“, fuhr sie ihn schnippisch an. Mit der Mutter, fand Gasperlmaier, war heute schlecht zu reden. Dabei hatte er gehofft, sie werde vielleicht gesprächiger werden, sobald die Frau Doktor weg war. Aber er hatte keine Ahnung, wie er das anpacken konnte. Vielleicht war es gescheiter, er ging nach Hause. „Ja, dann …“, verabschiedete er sich, „gute Nacht, Mama. Und wennst was brauchst …“ „Ja, ja“, antwortete die nur, „gute Nacht!“ Schon hatte sie das Wasser bei der Abwasch aufgedreht und achtete gar nicht mehr auf Gasperlmaier, der sich leise davonstahl.
Draußen hatte sich das Wetter verschlechtert. Es regnete nun nicht mehr, es schneite dicke, nasse Flocken. Gasperlmaier hatte es befürchtet. Auf dem Heimweg trieben ihn ein paar so heftige Windböen an, dass er sein Kapperl festhalten musste, damit es ihm nicht vom Kopf geweht wurde. Die Quargelbutter und das Geselchte drückten ihm auf den Magen. Er hätte nicht so gierig sein sollen.
„Hättest schon anrufen können, dass du später kommst!“ Die Christine war ein wenig verschnupft. Tatsächlich hatte Gasperlmaier während des ganzen Nachmittags nicht daran gedacht, einmal zu Hause anzurufen. „Seit einer halben Stunde warte ich schon mit dem Essen auf dich!“ Jetzt, das wusste Gasperlmaier, hieß es, vorsichtig zu sein. Er durfte der Christine keinesfalls von der üppigen Jause bei der Mutter erzählen und musste beim gemeinsamen Abendessen gesunden Appetit zeigen, sonst würde sich die Christine nur noch mehr ärgern. Eigentlich hatte sie ja recht.
Weitere Kostenlose Bücher