Letzte Ehre
breche ihr das Genick«, sagte Gilbert. Er hatte offensichtlich Schmerzen und atmete schwer, nun nicht mehr bewaffnet, aber immer noch unberechenbar. Er hatte seinen Unterarm unter Lauras Kinn geklemmt, so daß sie gezwungen war, dicht bei ihm zu bleiben, während sie die Knie beugte, um nicht erwürgt zu werden. Gilbert begann langsam rückwärts aus der Küche und ins Eßzimmer zu gehen. Laura stolperte rückwärts mit, die Füße nur halb auf dem Boden.
Helen zögerte, zweifellos durcheinander angesichts des Gewirrs aus Geräuschen und Formen.
Gilbert verschwand im Eßzimmer und pflügte sich rückwärts durch die Berge von Sperrmüll. Laura stieß eine Reihe ächzender Geräusche aus, da sie angesichts ihrer abgedrückten Luftröhre nicht sprechen konnte. Ich konnte ein Krachen und dann das Zerbrechen von Glas hören, als er die Haustür auftrat. Dann Stille.
Ich schwankte zwischen dem Wunsch, Gilbert nachzusetzen, und dem Bedürfnis, Helen zu helfen, da sie zitterte und leichenblaß war. Sie ließ den Gewehrlauf sinken und fiel ermattet auf ihren Stuhl. »Was ist denn los? Wohin ist er gegangen?«
»Er hat Laura bei sich. Beruhige dich. Alles wird gut«, sagte Ray. Er war immer noch auf dem Boden, lag seitlich in seinem Stuhl und kämpfte sich aus den Fesseln. Ich kroch zu ihm hinüber und versuchte ihm dabei zu helfen, sich aufzurichten, aber mitsamt dem sperrigen Stuhl war er für mich zu schwer, um ihn aufzuheben. Ich schnappte mir ein Fleischmesser von der Arbeitsfläche und durchtrennte die Schichten von Isolierband, die seine Hände und Füße fesselten. Als er eine Hand frei hatte, begann Ray den Rest des Klebebandes selbst abzuziehen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich immer noch auf seine Mutter. »Helfen Sie mir hier mal«, grunzte er mir zu.
»Was wird er ihr antun?«
»Nichts, bis er das Geld hat. Sie ist seine Versicherung.« Ich ergriff seine Hand und nahm alle meine Kräfte zusammen, während er sich vom Boden hochzog. Er sah mich kurz an. »Alles in Ordnung?«
»Mir fehlt nichts«, sagte ich. Wir richteten beide unsere Aufmerksamkeit auf Helen.
Die Schrotflinte lag quer über ihrem Schoß. Ich ging zu ihr hinüber, hob das Gewehr auf und legte es auf den Küchentisch. Ihre Schultern waren zusammengesunken, ihre Hände zitterten heftig, und ihr Atem ging flach und abgehackt. Vermutlich hatte sie einen Bluterguß an der Hüfte, wo der Gewehrkolben sie gestoßen hatte. Sie hatte alle ihre Energiereserven aufgebraucht, und ich fürchtete schon, sie würde einen Schock erleiden. »Ich hätte ihn umbringen sollen. Die arme Laura. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, aber ich hätte es tun sollen.«
Ray griff nach einem Stuhl und zog ihn näher zu seiner Mutter heran. Er nahm ihre Hand, tätschelte sie behutsam und fragte dann mit sanfter Stimme: »Wie fühlst du dich denn, Hell on Wheels?«
»Mir geht’s gleich wieder gut. Ich muß nur ein bißchen verschnaufen«, antwortete sie. Sie klopfte sich gegen die Brust und versuchte sich zu sammeln. »Ich bin nicht ganz so schwachsinnig, wie ich mich benommen habe.«
»Ich habe einfach nicht begriffen, was du vorhattest«, sagte er. »Ich kann es nicht fassen, daß du das getan hast. Als du angefangen hast, mit ihm zu reden, hielt ich das alles für Blödsinn, bis du diese Schrotflinte hervorgeholt hast. Du warst phantastisch. Vollkommen furchtlos.«
Helen winkte ab, schien aber mit sich selbst zufrieden und von seinem Lob angetan zu sein. »Nur weil man alt wird, heißt das noch lange nicht, daß man die Nerven verliert.«
»Ich dachte, Sie hätten Probleme mit den Augen«, sagte ich. »Woher wußten Sie, wo er stand?«
»Er stand direkt vor dem Küchenfenster, und so konnte ich seine Gestalt ausmachen. Ich mag ja fast blind sein, aber meine Ohren funktionieren noch. Er hätte nicht so viel reden sollen. Freida hat mich dazu überredet, Gewichtheben zu trainieren, und mittlerweile kann ich fünfundzwanzig Pfund drücken. Habt ihr gehört, was er gesagt hat? Er hat sich eingebildet, ich könne nicht einmal eine Schrotflinte von sieben Pfund halten. Das hat mich beleidigt. Die Alten in ein Klischee zwängen. Das ist der typische Macho-Scheiß«, erklärte sie. Sie preßte sich die Finger auf die Lippen. »Ich glaube, jetzt wird mir schlecht. Ach du liebe Zeit.«
18
Ray half seiner Mutter ins Badezimmer. Kurz danach hörte ich die Toilettenspülung und seine gemurmelten Trostworte und Zusicherungen, als er sie ins Bett brachte.
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