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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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steckte ihn sich in den Hosenbund.
    »Danke, Ray. Jetzt haben Sie sämtliche Fingerabdrücke ruiniert.«
    »Kein Mensch wird ihn auf Fingerabdrücke untersuchen«, sagte er.
    »Tatsächlich. Wie kommen Sie darauf?«
    Er ignorierte meine Frage. Dann ging er ins Eßzimmer, schnappte sich einen Pappkarton, den er zuerst ausleerte, dann flach zusammenlegte und damit die zerbrochene Fensterscheibe ersetzte, indem er die Pappe mit Gilberts Isolierband befestigte. Der Lichteinfall von draußen wurde schwächer, und die Kälte drang nach wie vor herein, aber wenigstens wären Vögel und kleine UFOs daran gehindert, durch das klaffende Loch hereinzufliegen. Während ich ihm zusah, begann er die Spüle von ihren Bergen aus Pfannen und Töpfen zu befreien, stellte sie ordentlich auf die eine Seite und bereitete den Abwasch vor. Ich liebe es, Männern bei der Hausarbeit zuzusehen.
    »Ich habe Sie telefonieren hören. Haben Sie die Polizei gerufen?«
    »Ich habe Maria angerufen, weil ich wissen wollte, wie es ihr geht. Gilbert hat sie böse zusammengeschlagen. Sie sagt, er hätte ihr die Nase gebrochen, aber sie will ihn nicht anzeigen, solange er Laura in seiner Gewalt hat.«
    »Sie könnten 911 anrufen«, sagte ich. Vielleicht hatte er mich nicht richtig verstanden?
    Ich schaltete den Staubsauger wieder an und saugte die blinkenden Glassplitter auf. Ich wartete darauf, daß er das Thema wieder zur Sprache brachte, aber er vermied es geflissentlich. Schließlich stellte ich das Gerät ab und sagte: »Was ist eigentlich los? Warum rufen wir nicht die Polizei? Laura ist entführt worden. Ich hoffe, Sie bilden sich nicht ein, daß Sie damit allein fertig würden.«
    »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Maria ist nicht daran interessiert. Sie hält es für voreilig.«
    »Ich spreche nicht von Maria. Ich spreche von Ihnen.«
    »Suchen wir erst mal nach dem Geld. Wenn wir in einem Tag nichts auftreiben, können wir immer noch die Bullen verständigen.«
    »Ray, Sie sind verrückt. Sie brauchen Hilfe.«
    »Ich komme schon klar.«
    »Das ist doch Schwachsinn. Er wird sie umbringen.«
    »Nicht, wenn ich das Geld finde.«
    »Wie wollen Sie das anstellen?«
    »Das weiß ich noch nicht.«
    Er band sich eine Schürze um die Taille. Dann steckte er den Stöpsel in den Abfluß und drehte das heiße Wasser auf. Er nahm das Spülmittel und spritzte eine ordentliche Menge in das Becken, wobei er seine verletzten Finger vom Wasser fernhielt. Ein Berg weißen Schaums wuchs empor, in den er Teller und Besteck tauchte. »Ich habe mit sechs Jahren abspülen gelernt«, sagte er beiläufig und nahm eine Bürste mit langem Griff zur Hand. »Man hat mich auf einen leeren Milchkasten gestellt und mir beigebracht, wie man es richtig macht. Von da an war es meine Aufgabe. Im Gefängnis haben sie diese großen Industriespülmaschinen, aber das Prinzip ist das gleiche. Wir alten Zuchthäusler wissen alle, wie wir uns nützlich machen können, aber diese jungen Taugenichtse, die in den Bau kommen, können rein gar nichts außer Stunk machen. Drogenfuzzis und Vergewaltiger. Grusliger Haufen.«
    »Ray.«
    »Erinnern mich an Kampfhähne... total aufgeblasen und aggressiv. Denen ist alles scheißegal. Diese Jungs sind zum Sterben geboren. Sie haben weder Hoffnungen noch Aussichten. Nur ihre Einbildung. Nichts als Einbildung. Fordern Respekt, ohne je etwas getan zu haben, um ihn zu verdienen. Die Hälfte von ihnen kann nicht einmal lesen.«
    »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte ich.
    »Auf gar nichts. Ich habe das Thema gewechselt. Der Punkt ist, daß ich die Bullen nicht rufen will.«
    »Spricht irgend etwas dagegen?«
    »Ich mag keine Bullen.«
    »Ich verlange ja auch nicht von Ihnen, eine dauerhafte Beziehung mit ihnen einzugehen«, sagte ich. Ich beobachtete ihn. »Was ist denn? Da ist doch noch etwas anderes.«
    Er spülte einen Teller und stellte ihn auf den Geschirrständer, wobei er meinem Blick auswich. Ich nahm ein Geschirrtuch und begann abzutrocknen, während er spülte. »Ray?«
    Er stellte einen weiteren Teller in den Ständer. »Ich habe einen Verstoß begangen.«
    Ich überlegte, was für einen Verstoß. Dann fragte ich: »Wogegen?«
    Er zuckte kaum merklich die Achseln.
    Dann fiel der Groschen. »Die Bewährungsauflagen? Sie haben gegen die Bewährungsauflagen verstoßen?«
    »Etwas in der Richtung.«
    »Aber was genau?«
    »Tja, ehrlich gesagt, >genau< heißt, daß ich davonspaziert bin.«
    »Geflüchtet?«
    »Geflüchtet würde ich es nicht nennen. Es

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