Letzte Ehre
Kräutergeruch getrockneter Gräser durchdrang die Novemberluft. Zu meiner Rechten konnte ich durch einen weiß verputzten Bogen, der auf ein kurzes Stück Veranda hinausging, die wellige Kante des alten, roten Ziegeldachs sehen. In Santa Teresa waren die Dachziegel früher handgemacht, und die C-förmige Biegung entstand dadurch, daß der Arbeiter sich den Ton über den Schenkel legte. Heute sind die Ziegel alle S-förmig und maschinell gefertigt, und die alten Dächer werden zu Höchstpreisen gehandelt. Das, auf das ich soeben blickte, war vermutlich zehn- bis fünfzehntausend wert. Die Einbruchkünstler hätten sich über das Dach hermachen sollen, anstatt über die Wohnung des Alten mit ihrem rissigen Linoleum.
Babe machte die Tür auf. Sie hatte sich umgezogen und ihr schwarzes T-Shirt mitsamt den Radlerhosen gegen ein unförmiges Baumwollkleid eingetauscht. Ihre Augen waren riesig und hatten die Farbe von Milchschokolade, und ihre Wangen waren übersät von Sommersprossen. Ihr Übergewicht war gleichmäßig verteilt, als hätte sie sich in einen kälteisolierenden Gummianzug gequetscht.
»Hi. Ich bin Kinsey. Bucky hat mich angerufen und mich gebeten, vorbeizukommen.«
»Ach ja. Schön, Sie kennenzulernen. Tut mir leid, daß ich Sie vorhin verpaßt habe.«
»Ich habe schon damit gerechnet, daß wir uns irgendwann kennenlernen würden. Ist Bucky hinten?«
Sie beugte den Kopf und brach den Blickkontakt ab. »Er und sein Vater. Chester ist am Brüllen, seit wir nach Hause gekommen sind. So ein Arsch«, murmelte sie. »Die ganze Zeit schreit er ‘rum. Ich halt’s bald nicht mehr aus. Ich meine, wir haben das Chaos ja nicht veranstaltet, warum brüllt er dann uns an?«
»Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Mm-mmh, die sind schon unterwegs. Angeblich«, fügte sie verächtlich hinzu. Vielleicht hatte sie die Erfahrung gemacht, daß die Bullen nie auftauchten, wenn sie es zugesagt hatten. Ihre Stimme war rauchig und weich. Sie neigte dazu zu nuscheln und konnte sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. Vielleicht trainierte sie darauf, Bauchrednerin zu werden. Sie trat zurück, um mich hereinzulassen, und dann folgte ich ihr den Flur entlang, genau wie früher am Tag Bucky. Ihre Gummilatschen erzeugten auf dem Hartholzboden saugende Geräusche.
»Sie sind wohl gerade erst nach Hause gekommen«, sagte ich. Ich mußte zu ihrem Hinterkopf sprechen und beobachtete dabei Anspannung und Lockerung ihrer Wadenmuskeln beim Gehen. In Gedanken setzte ich sie auf Diät... eine ganz, ganz strenge.
»Mm-mmh. Erst vorhin. Wir waren in Colgate, zu Besuch bei meiner Mutter. Chester ist als erster nach Hause gekommen. Er hat diese Deckenlampe gekauft, die er drüben installieren wollte. Als er oben ankam, sah er, daß die Fensterscheibe zerbrochen war und das ganze Glas auf den Stufen lag. Irgend jemand hat die Wohnung komplett zerlegt.«
»Haben sie etwas mitgenommen?«
»Das versuchen sie gerade herauszufinden. Chester hat zu Bucky gesagt, er hätte Sie nicht allein lassen sollen.«
»Mich? Das ist ja blödsinnig. Weshalb sollte ich die Wohnung auseinandernehmen? Ist nicht gerade meine Arbeitseinstellung.«
»Das hat Bucky auch gesagt, aber Chester hört nie auf ihn. Als wir hier ankamen, hatte er schon einen Anfall. Ich kann es gar nicht erwarten, bis er wieder nach Ohio fährt. Ich bin mit den Nerven am Ende. Mein Daddy hat nie gebrüllt, also bin ich das auch nicht gewohnt. Meine Mom würde ihm eins auf die Mütze geben, wenn er jemals so mit ihr späche. Ich habe Bucky gesagt, er soll Chester besser klarmachen, daß er mich nicht zu beschimpfen hat. Mir paßt seine Art nicht.«
»Warum sagen Sie es ihm nicht?«
»Tja, ich habe es mehr als einmal versucht, aber es nützt rein gar nichts. Er war viermal verheiratet, und ich wette, ich weiß, warum sie sich von ihm scheiden lassen. In letzter Zeit sind alle seine Freundinnen vierundzwanzig Jahre alt, und sogar die bekommen ihn über, wenn er ihnen erst mal einen Berg Klamotten gekauft hat.«
Wir trotteten die Treppen zu der Garagenwohnung hinauf, deren Tür offenstand. Aus dem schmalen Fenster daneben war ein sternförmiges Stück Glas herausgebrochen worden. Die Methode des Eindringens war simpel. Es gab nur eine Tür zu der Wohnung, und sämtliche anderen Fenster lagen sechs Meter über der Erde. Die meisten Einbrecher riskieren es nicht, am hellichten Tag eine Leiter an die Seite eines Hauses zu stellen. Es war offensichtlich, daß der Eindringling einfach die
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