Letzte Ehre
Röntgenaugen oder sowas.«
»Ja, sicher«, sagte ich. Ich wühlte in meiner Handtasche, bis ich mein Flugticket fand. Dann fing ich an, auf der Suche nach einem Telefonbuch Nachttischschubladen aufzuziehen. »Also, Leute — ich weiß nicht, wie ihr diesen kleinen Konflikt lösen wollt, aber ich verschwinde jedenfalls.«
»Sie verlassen uns?« fragte Ray verblüfft. »Und was ist mit Chester?«
»Er hat mich gefeuert«, antwortete ich. Ich fand die Gelben Seiten in einem separaten Band, der vermutlich zehn Pfund wog. Ich zerrte ihn aus der Schublade, hievte ihn auf meinen Schoß und ging die mit »Fluggesellschaften« überschriebenen Spalten durch. »Sehen Sie, was auch immer Sie und Laura beschließen, geht nur Sie beide etwas an. Ich bin gekommen, um bei der Suche nach dem Geld zu helfen, das Sie so eifrig verschenken. Ich bin schon Geschichte. Es hat keinen Sinn, wenn ich noch länger hier bleibe. Wenn es Chester nicht paßt, kann er es ja mit Ihnen ausmachen. Er ist jetzt schon so sauer, daß er meine Rechnung vermutlich nicht bezahlen wird, was heißt, daß ich Pech hatte. Ich kann genausogut nach Hause fahren. Zumindest bis hierhin die Verantwortung für die Situation übernehmen.« Ich fand die Nummer von American Airlines und legte meinen Finger auf die Stelle, während ich den Hörer abnahm.
»Aber Sie können uns doch nicht einfach sitzenlassen«, sagte Ray.
»So würde ich es nicht nennen«, sagte ich.
»Wie dann?«
»Ray, wir sind keine siamesischen Zwillinge. Ich bin ganz spontan hierhergekommen, also dachte ich, daß ich genauso spontan wieder nach Hause fahren würde.« Ich klemmte mir den Telefonhörer in die Halsbeuge und wählte die Nummer von American Airlines. Sowie der Anruf durchgekommen war, wurde ich auf eine Warteleitung geschaltet, während mir eine mechanische Stimme versicherte, daß mein Anliegen über alle Maßen geschätzt würde. »Das Geld ist sowieso gestohlen«, fuhr ich im Plauderton fort, »was ein weiterer Grund dafür ist, daß ich nichts damit zu tun haben will.«
»Es ist jetzt vierzig Jahre her, daß wir diesen Tresorraum ausgeräumt haben«, protestierte Ray. »Die Bank existiert überhaupt nicht mehr. Hat 1949 den Geist aufgegeben. Die meisten Kunden sind tot, also selbst wenn ich ehrlich sein wollte, wem sollte ich das Geld zurückgeben? Dem Staat Kentucky? Zu welchem Zweck? Ich habe für diese Kohle mein Leben im Knast verbracht, und ich habe jeden Cent davon verdient.«
»Trotzdem ist es eine Straftat«, sagte ich höflich, da ich nicht streitsüchtig erscheinen wollte.
»Was ist eigentlich mit der gesetzlichen Verjährung? Wer soll denn nach so langer Zeit noch mit dem Finger auf mich zeigen? Außerdem bin ich schon einmal verurteilt worden und habe für meine Sünden bezahlt.«
»Besprechen Sie das mit einem Anwalt. Vielleicht haben Sie ja recht. Nur für den Fall, daß Sie nicht recht haben, halte ich mich lieber raus«, sagte ich.
Laura wurde langsam ungeduldig. Sie hatte offenbar kein Interesse an unserer Debatte über juristische Feinheiten. Sie lehnte sich näher zu mir und zischte: »Ich wünschte, Sie würden den Hörer auflegen. Was, wenn Farley mich zu erreichen versucht?«
Ich hielt eine Hand in die Höhe wie eine Verkehrspolizistin. Der Angestellte von American Airlines war soeben an den Apparat gekommen und hatte sich mit Namen gemeldet. Ich sagte: »Oh, hallo, Brad. Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich habe ein Hin- und Rückflugticket von Santa Teresa, Kalifornien, nach Palm Beach, Florida, ohne festen Termin für den Rückflug, und den würde ich jetzt gern buchen. Ich bin jetzt in Dallas, also brauche ich nur den Teil von Dallas nach Santa Teresa.«
»Und an welchem Tag soll es sein?«
»So bald wie möglich. Heute, wenn es geht.«
Während Brad und ich unsere Geschäfte abwickelten, handelten Ray und Laura offenbar eine Art Vater-Tochter-Waffenstillstand aus, eine Art finanzieller Feuerpause. Offenbar erlaubte sie ihm, ihr die heftig umkämpften acht Riesen zu verehren. Ich bekam am Rande mit, wie er ihr erklärte, daß er nach unten in sein Zimmer im zehnten Stock gehen und sein Gepäck holen müsse. Er bat sie um die Erlaubnis, sein Gepäck in ihrem Zimmer lassen zu können, bis er beschlossen hatte, wo er von hier aus hinwollte.
Unterdessen begann sie auf und ab zu gehen und wurde immer aufgeregter, während der Angestellte und ich versuchten, einen Reiseplan für mich auszuarbeiten. Es gab ein paar alternative Routen, auf denen ich
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