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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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Veranstaltung gekommen waren, aber vor allem, weil ich deutlich eine Enttäuschung des Publikums spürte: Ich hatte zu kurz, zu wenig gelesen. Merkwürdig, so etwas nimmt mich mit. Anscheinend bin ich ein redlicher Krämer: Für gutes Geld möchte ich gute Ware geben, sonst bekomme ich Gewissensbisse.
    4 . März 2004  Heute habe ich ein Interview gegeben, mit der Journalistin zu Mittag gegessen, einen Fernsehfilm gesehen, und jetzt, spätabends, schreibe ich Briefe: Nicht das sollte meine Sache sein.
    6 . März 2004  M.s bewundernswerte Energie umfängt mich wie eine innige Umarmung. – Im übrigen habe ich nichts getan außer ein paar Briefe geschrieben. Mit schrecklichen Rückenschmerzen bis zur Ludwigkirch-Straße geschlendert, von dort über den Kurfürstendamm wieder zurück. In meine herumliegenden Papiere und Briefe Ordnung gebracht. Gegen Abend eine gute halbe Stunde im Liegesessel geschlafen. Danach mit M. den Schlußteil des Freud-Films gesehen; ein guter Film. Mich beschleicht das Gefühl, daß ich ganz überflüssigerweise noch lebe.
    8 . März 2004  Morgens halb sechs. Heute mittag brechen wir zu der Reise nach Spanien auf. Nach Madrid und Barcelona: Wir haben beide keine Lust dazu. Nie hätte ich gedacht, daß ich jemals sagen würde, ich habe das Reisen satt. Aber so ist es. – Gestern im Konzert: die Berliner Symphoniker mit Sir Simon Rattle und Pierre-Laurent Aimard, der uns ein Fax geschickt und eingeladen hatte. Nach dem Konzert suchten wir ihn hinter der Bühne und stellten fest, daß wir uns anscheinend verfehlt hatten, schließlich gingen wir ins Hyatt-Hotel, da wir wußten, daß er dort wohnt. Ein nasser, kalter Wind blies um das Sony-Center, auf den Gehwegen zeigte sich keine Menschenseele, ich befürchtete, M. werde sich erkälten. Endlich fanden wir den brillanten Pianisten, der uns mit seiner Freundin Tamara zum Abendessen einlud. Als die Rede auf Ligeti kam, sprachen wir über die dauernden Gesinnungswechsel, die genialische Unmöglichkeit dieses sonderbaren Menschen, der uns beiden auf den Geist geht, wie der Budapester sagt. Vorher, noch bei den Ligetis, hatte Vera zu uns gesagt, Aimard – der, nebenbei bemerkt, Ligetis Stücke seit Jahren spielt und den Ligeti selbst für den besten Interpreten seiner Musik hielt –, habe «vergessen, wie man Klavier spielt». Jetzt kam heraus, daß Aimard bei Ligetis gewesen war, sich ans Klavier gesetzt und nichts bei Ligeti Gefallen gefunden hatte. Mal stimmte das Tempo nicht, mal die Phrasierung. Als er nachfragte, was Ligeti an seinem Spiel mißfalle, erhielt er absurde Antworten. «Sie gehen nicht in die richtige Richtung.» «In welche Richtung soll ich denn gehen?» «In die richtige.» «Langsamer oder schneller?» «Viel langsamer.» Das gefiel ihm auch wieder nicht. «Schneller!» Sie maßen mit dem Metronom nach. Aimard hielt sich genau an das vorgeschriebene Tempo. «Auch dann nicht gut.» Erst gestern abend kam ich darauf, daß Ligeti eigentlich in einem unauflösbaren Widerstreit mit sich selbst liegt. Als ekele ihn die eigene Musik an, als sei er mit sich selbst entzweit und in Wirklichkeit das seine Krankheit. Als ich mit M. darüber sprach, fiel uns ein, daß Vera doch zudem – dem Beruf nach – Psychologin ist, aber statt daß sie den Sachverhalt längst erkannt und alles darangesetzt hätte, um Ligeti mit seinem Werk auszusöhnen, sekundiert sie ihm, spricht ihm seine sich selbst verleugnenden Texte wie ein Papagei nach, wobei die Selbstverleugnung auf die Herabsetzung der Leistungen anderer projiziert wird.
    14 . März 2004  Gestern abend aus Spanien zurückgekehrt. Am ersten Tag Madrid, diese großangelegte, elegant gebaute Stadt, deren kaiserliche Pracht sich so angenehm von der kleinlichen Pracht mittel-und osteuropäischer Kaiserstädte unterscheidet. Mit Madrid kann sich vielleicht nur Petersburg messen, mit dem unbedingten Unterschied, daß Madrid heute noch ist, was es ist, und keine Museumsstadt. Pressekonferenz, abendlicher Auftritt mit dem begeisterten Juan Cruz, der kein Maß kennt, pompöses Mittagessen, pompöses Abendessen, am nächsten Morgen um fünf Uhr Weckruf, Abreise nach Barcelona, wo uns das gleiche erwartete. M. und ich sind entschlossen, in Zukunft allen Einladungen dieser Art hartnäckig zu widerstehen. Die Madrider Terroranschläge, die Kundgebung, an der wir selbst teilnahmen, Mihály Dés, der auf der Bühne versuchte, mein Werk zu diskreditieren, und den ich deswegen unterbrach und vor dem

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