Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
neuer Freund: E., der Übersetzer. Viele Journalisten, ich wurde intensiv befragt; meine überraschende Situation im Westen, wo ich ständig die osteuropäischen Selbstzweifel bekämpfen muß, die man mir über Jahrzehnte durch die Ablehnung meines Werkes und meiner Person eingeimpft hat. Es ist mir unmöglich zu glauben, daß ich mit jenem Imre Kertész identisch bin, der in gewissen Kreisen als vielgelesener Autor und glaubwürdige Person gilt. Ich fühle mich wie ein Scharlatan, ein Hochstapler. – Am letzten Tag die Burg von Helsingör, Hamlet huschte durch die Säle; Nebel, graues Zwielicht, Regen; der prachtvolle Hof des Burgschlosses, die holländische Renaissance der Fassade. Am Ende habe ich mich ordentlich erkältet, sitze verschnupft am Computer.
28 . April 2002 Diese jungen Nihilisten, die hier die Wahlen verloren, haben genau erkannt, daß die Demokratie über kein Instrumentarium zum Schutz vor Putschisten verfügt. Was auf Ungarn so angewendet werden muß, daß es Demokratie hier noch nicht gibt – noch kein Schutzmittel also.
1 . Mai 2002 Schwere Tage. Erkältung. Jeden Tag viel zu viele Menschen. Die Bedrohung durch die Außenwelt; der Antisemitismus ist ernst zu nehmen. Im Grunde sehe ich jetzt zum ersten Mal in aller Herrlichkeit, wie blitzschnell ein Sündenbock aufgebaut wird. Der Grund für den Terrorangriff auf New York war sofort Israel. Der Grund für die Existenz Israels sind die Juden. Die Juden richten für die Araber ein Auschwitz ein. In Europa beginnen pro-palästinensische Kundgebungen. Ihre Quintessenz: Israel möge vom Erdboden verschwinden. Die vielen internationalen Juden, die sich wütend und geifernd gegen Israel wenden, um dem Haß zu entkommen, der sich über die Juden ergießt. Die üblichen Kapo-und Vorarbeiter-Figuren. Zweifellos wird es keine Ruhe geben, bis nicht alle Juden ausgerottet sind. Ich bin fast neugierig darauf, was man nach Auschwitz Neues erfinden wird. Nach meinem Gefühl bereitet sich ein Weltkrieg vor, wenn man auch noch nicht sagen kann, wer ihn dann austragen wird, wer die beiden Hauptgegner sind. Das Gesicht des Hasses nimmt schreckliche Züge an, von neuem erlebt man den Rausch des Kollektiven; der Bestand Europas hängt allein von Amerika ab, und dafür haßt Europa Amerika, und Amerika haßt die Europäer; man schwatzt von europäischer Kultur, während die europäische Vitalität längst von Dekadenz angefressen ist und die Repräsentanten des Kontinents, die «Intellektuellen», durch die Welt torkeln wie die klassischen gockelhaften Syphilitiker des 19 . Jahrhunderts.
Mich hat von jeher die mit knirschender Rührseligkeit verschleierte Lüge gestört, die Auschwitz umwitterte. Jetzt, da Europa sich offen zur Zerstörung Israels bekennt, zur Ausrottung der Juden, also eigentlich zu Auschwitz, hat die Luft sich gewissermaßen gereinigt.
3 . Mai 2002 In der Gegend der Basilika, wo ich einen Scheck einreichen mußte, fiel mir eine zufällige Begegnung in all ihren Einzelheiten wieder ein. Ein auffallend gutaussehendes Mädchen, sie hatte unlängst einen Mann geheiratet, den sie nicht hätte heiraten dürfen, und beklagte sich nun bei mir über ihre Ehe. Es war grauer Winter, unangenehmes Nieselwetter. Beide hätten wir gern miteinander geschlafen, aber keiner von uns hatte eine Wohnung. Ich entsinne mich an die melancholische Zärtlichkeit, die das unerfüllbare Verlangen in mir auslöste. All das ist 52 Jahre her. Ich versuchte das unsägliche Gewicht dieses halben Jahrhunderts zu erfassen, konnte aber nur an die Flüchtigkeit des Lebens denken. Ich habe noch nicht damit angefangen, und schon ist alles vorbei.
12 . Mai 2002 Seit Dienstag wieder in der Meineke-Straße, diesmal aber keine Berlin-Euphorie. Tiefe körperlich-seelische oder vielmehr geistige Erschöpfung.
Der Bettler ist nicht mehr zu sehen. Ich stelle mir eine nachtasylartige Unterwelt vor. Drogen, eine verschlampte Frau, um die herum zwei hilflose Kinder plärren. Ein zahnloser, langhaariger Liebhaber. Er verprügelt den Bettler jede Nacht. Vielleicht hatten sie ihn jetzt endgültig satt, haben ihn entweder totgeschlagen oder weggejagt, irgendwohin, vielleicht in einen anderen Stadtteil. Ich hoffe, er ist am Leben – mag sein, eine gauklerische Hoffnung, die er – falls er wirklich noch lebt – vielleicht nicht einmal teilen würde.
Der Roman bewegt sich nicht, obwohl ich eigens dafür nach Berlin zurückgekommen bin. Statt dessen habe ich mich
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