Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
unzähligen Reden, der unnützen Zeitverschwendung. Mit einem Wort: ich bin unfähig, mein Leben zu organisieren, und das alles im Alter von 75 Jahren, wo ich nur noch die edelsten, auserlesensten Ideen zur Ausführung bringen sollte.
10 . Februar 2004 Vom 7 . bis 8 . in Neumarkt; Lesung zum Konzert von András. Pfleiderers, die Gastgeber. Mittagessen bei ihnen, dann zum Münchner Flughafen gehetzt. Unwetter, Schneesturm, Donner, Glatteis. Müde nach Hause in die Meineke-Straße. Montag, am 9 ., langer Spaziergang mit M., wir setzten uns ins Café Berlin. Ein Packen gute Presse. Ich bekam die traurige Abrechnung des Suhrkamp Verlags: kaum 20 000 Exemplare sind von
Liquidation
verkauft. Es ist beschlossene Sache, daß ich den Verlag verlasse. Gestern abend brachte mir Barbarics, der anläßlich der Berlinale hier war, eine Kassette, die 20 Minuten fertiges Filmmaterial enthält. Am späten Abend sah ich es mir zusammen mit M. an; überraschend gut. Ich rief Koltai an, verabreichte ihm Vitamin P (
praise vitamin
: Th. Mann), er war sehr gerührt, ich aber auch. Heute den ganzen Tag Gästerummel (mittags Yuuko, nachmittags Landesmann). Weder gestern noch heute gearbeitet, heute morgen aber las ich die bereits fertigen Seiten der
Letzten Einkehr
: Ich bin zufrieden. Das Ganze erhält seinen Charakter durch eine merkwürdige Spannung, die jedoch nicht der Handlung entspringt – denn eine Handlung gibt es ja nicht –, sondern existentiell ist, wenn ich so sagen darf. Das entspricht meinem Willen. Im übrigen ständige Müdigkeit – ein schlechtes Zeichen.
12 . Februar 2004 Ich glaube, ich breche dieses Tagebuch ab, denn 1 .) verdirbt es den Stil der
Letzten
, meines «anderen Tagebuchs», und 2 .) ist es unnütze, oberflächliche Zeitvergeudung. Wenn ich morgens um fünf, wie auch jetzt, an diesem sinnlosen Tagebuch schreibe und nicht eine wirklich kreative Arbeit verrichte, ist es das frühe Aufstehen nicht wert. – Vorgestern neue Begegnung mit Kafka (kaufte die vollständige kritische Ausgabe); abends las ich die Domszene aus dem
Prozeß
; beim Lesen von Kafka kann man sich nur schämen, daß man zu schreiben wagt. Wieder überwältigte mich die aus jeder Zeile, jedem Wort strömende Genialität, mit ihr Vergleichbares ist uns seither nicht begegnet. – Gestern abend unerwartet ins Theater – unerwartet, weil wir vergessen hatten, daß Beil uns für diesen Tag eingeladen hatte, bis das Theater uns benachrichtigte, daß zwei Karten für uns zur Verfügung stünden –, es gab Lessings Stück
Die Juden
. Während das Publikum Platz nahm, saß auf der linken Seite der noch leeren Bühne eine Zeitung lesende Gestalt, die Zeitungsseiten verdeckten das Gesicht und fast den ganzen Oberkörper, und ich sagte M., das wird wahrscheinlich Tabori sein. Dann begann das Stück, die Zeitung vor dem Gesicht senkte sich: Er war es. Nach der Vorstellung suchten wir ihn hinter den Kulissen auf: Es war eine erschütternde Begegnung mit einem 90 jährigen, zerbrechlichen alten Menschen, dessen ungewöhnlicher Charme unverändert ist. Wir verabredeten, ihn anzurufen, doch uns allen war bewußt, daß er nie den Hörer abnimmt.
Auf dem Heimweg fragte uns der Taxifahrer, ein Mann mit Brille und Bart um die vierzig, was wir gesehen hätten, wie die Vorstellung gewesen sei, und als er den Titel des Stücks hörte, wurde sein Interesse sichtlich wach. Er gehe davon aus, daß wir an dem «Thema» interessiert seien. Berlin, sagte er, bewahre zahlreiche Spuren jüdischen Lebens. Er zeigte auf ein dickes Buch, das neben seinem Fahrersitz lag und von Rahel Varnhagen handelt. Er wollte wissen, woher wir kämen, dann fragte er rundheraus, ob wir auch selbst jüdischer Herkunft seien. Ich antwortete, ja, ich sei sogar ein jüdischer Schriftsteller, mehr noch, Nobelpreisträger (das habe sie, bemerkte M., zum ersten Mal aus meinem Mund gehört). Der Typ wollte meinen Namen wissen, ließ ihn sich von mir auf ein Stück Papier schreiben, um sich, wie er sagte, eins meiner Bücher zu besorgen. Noch im Aufzug machte M. mir heftige Vorwürfe, daß ich mich auf dieses Gespräch eingelassen habe. Ich sagte ihr, ich wolle offen, ohne Angst leben. Schließlich, ob ich wolle oder nicht, sei ich eine Person des öffentlichen Lebens, jeder könne sich meine Adresse beschaffen. M. mißbilligte mein Verhalten entschieden, sie argumentierte – und hatte damit vollkommen recht –, daß der Taxifahrer ungewöhnlich aufdringlich gewesen sei, ich hätte
Weitere Kostenlose Bücher