Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
Selbstmörder in der ville basse gehört?«
»Nein? Wo?«
»Ist heute Nacht gesprungen. Von der Rouder Bréck.«
Von der Roten Brücke, eigentlich dem Pont Grande-Duchesse Charlotte, waren früher viele in den Tod gesprungen. Die siebzig Meter über dem Unterstadtviertel Pfaffenthal thronende Stahlkonstruktion schien Selbstmörder magisch anzuziehen. Der Stadtteil lag direkt unter der Brücke. Pfaffenthaler, so hatten die Leute in seiner Jugend gescherzt, brauchten Nerven wie Drahtseile und einen tiefschwarzen Humor, um mit dem Umstand fertig zu werden, dass sie des Morgens mit unschöner Regelmäßigkeit die zerschmetterten Überreste lebensmüder Menschen vor ihren Häusern und in ihren Gemüsegärten fanden. In den Neunzigerjahren hatte man deshalb hohe Plexiglaswände auf dem Pont errichtet. Seitdem sprang niemand mehr, zumindest nicht von der Rouder Bréck.
»Weiß man, wer es war?«
Jacques schüttelte den Kopf. »Irgendein Ausländer.«
Kieffer nickte. Er konnte spüren, wie es in seinem Magen rumorte. Dann stieg er in den Peugeot und fuhr den Kirchberg hinauf, vorbei an der Philharmonie auf die Avenue Kennedy. Als Kieffer die rot gestrichene Stahlbrücke überfuhr, zitterten seine Hände. Hier musste der Mann gesprungen sein. Er spürte, wie sein Magen krampfte. Nicht einmal zwei Minuten später parkte er sein Auto am Glacis. Kieffer schaute zurück. Von der Schueberfouer bis zur Mitte der Rouder Bréck waren es nicht einmal dreihundert Meter.
7
Es war bereits nach zwei Uhr morgens, als Kieffer die Verschläge des »Léiw«-Stands verriegelte und sich auf den Heimweg machte. Statt die Rout Bréck zu benutzen, fuhr er durch die Innenstadt, dann die Monteé de Clausen hinunter und an der Abbaye de Neumünster vorbei zu seinem Haus in Grund. Unter normalen Umständen wäre Kieffer sofort ins Bett gefallen, aber daran war heute nicht zu denken. Er holte eine Flasche Drëpp aus dem Keller, luxemburgischen Schnaps, und setzte sich in den Garten. Es war immer noch warm, eine Tropennacht beinahe. Morgen sollte es wieder heiß werden. Es war eigentlich keine Nacht für Drëpp, eher eine für eiskaltes Bier. Aber er benötigte etwas, um seine Nerven zu beruhigen.
Kieffer trank einen Schnaps, dann einen weiteren und rauchte dazu einige Ducal. Er spielte mit dem Gedanken, Valérie aus dem Bett zu klingeln. Aber was sollte er ihr sagen? Dass jemand von einer Luxemburger Brücke gesprungen war, er aber keine Ahnung hatte, um wen es sich handelte – gleichzeitig jedoch zu ahnen glaubte, dass es nur der Betrunkene aus dem Zelt sein konnte?
Gegen halb vier ging Kieffer ins Bett. Nachdem er sich zwei Stunden lang im Halbschlaf hin- und hergewälzt hatte, hielt er es nicht mehr aus. Er zog sich wieder an und lief zu seinem Auto, das er vorne an der Ulrichbrücke geparkt hatte. In dem verschlafenen Unterstadtviertel war um diese Zeit noch nicht einmal der Bäcker wach. Aber ein paar Kilometer weiter, auf der Rue de Neudorf, gab es eine Vierundzwanzig-Stunden-Tankstelle. Er war der einzige Kunde. Den verschlafen aussehenden Kassierer am Nachtschalter bat Kieffer, ihm die Zeitungen zu geben, die schon da waren.
»Welche möchten Sie denn?«
»Alle.«
Der Mann verschwand kurz und schob ihm dann einen großen Stapel Papier durch die Schublade: Das »Letzebuerger Journal«, das »Luxemburger Wort« und das »Tageblatt«, außerdem das französische »L’Essentiel«, ferner die portugiesischsprachige »Correio«. Kieffer zahlte und setzte sich mit dem Packen ins Auto. Hastig begann er, die Zeitungen durchzublättern. Schnell fand er, was er suchte. Das »Wort« machte seinen Luxemburgteil mit dem Selbstmord auf:
Mann springt von der Roten Brücke
In der Nacht zum Sonntag ist eine unbekannte Person vom Pont Grande-Duchesse Charlotte gesprungen. Pfaffenthaler Anwohner fanden die Leiche in den Morgenstunden unweit der Rue Ménager. Nach Angaben der Polizei handelt es sich um einen Amerikaner, der in Luxemburg arbeitete. Die genauen Todesumstände sind noch unklar. Die Rote Brücke galt lange als Anziehungspunkt für Selbstmörder aus der ganzen Großregion, aber seit der Errichtung mehrerer Meter hoher Sicherheitswände an den Brüstungen ist die Zahl der Vorfälle stark zurückgegangen. Die Police Grand-Ducale sperrte die Rue Ménager zwecks Spurensicherung mehrere Stunden lang ab. Didier Manderscheid, der Direktor der Kriminalpolizei, sagte dieser Zeitung, über die genauen Hintergründe könne man derzeit nichts
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