Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
aufeinander zu und bildeten kantige konkave und konvexe Flächen. Das Resultat war ein Gebäude, das an einen schwarz glänzenden Eisberg erinnerte. Als Kieffer ihm näher kam, konnte er erkennen, dass auf den drei-, vier- oder mehreckigen Glasflächen des Gebäudes mit weißer Folie allerlei Bonmots oder Zitate aufgeklebt waren, offenbar bis hinauf in den obersten Stock.
»Never catch a falling knife«, stand an einer Scheibe; »All Money is a matter of belief«, an einer anderen. Kieffer zog am Türgriff. Er rührte sich nicht. Der Koch lugte durch die dunkle Eingangstür und sah, dass der Empfang unbesetzt war. Er drückte auf eine Klingel, über der »It’s not the having, it’s the getting« stand. Nach einigen Sekunden ertönte aus dem Interkom eine Stimme: »Monsieur Kieffer?«
»Ja, guten Tag. Herr Kwaukas?«
»Ich komme runter«, kam die Antwort auf Englisch. »Einen Moment.«
Kurz darauf öffnete sich der Fahrstuhl. Heraus trat ein vielleicht vierzigjähriger Mann mit kurz geschnittenem, rotblondem Bart und kahl geschorenem Kopf. Er öffnete die Eingangstür. Kwaukas sah nicht aus wie ein Banker. Hemd und Krawatte passten noch halbwegs, die Jeans und die Adidas-Turnschuhe hingegen weniger. Er schüttelte Kieffer die Hand und sagte: »Kommen Sie mit. Wir können nach oben gehen, es ist kaum jemand da.«
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock. Kwaukas geleitete ihn durch ein verwaistes Großraumbüro in einen Konferenzraum im hinteren Teil der Etage und bot ihm Kaffee an. Kieffer nahm einen und nippte. Er schmeckte schrecklich. Kwaukas schien es ihm anzusehen. »Tut mir leid. Unter der Woche bekommen wir immer Gourmetware von diesem Coffeeshop in der Rue d’Eau geliefert, aber heute gibt es leider nur Automatenbrühe. Sie wollen also etwas über den verstorbenen Aron Kats wissen? Sind Sie Privatdetektiv?«
»Nein«, erwiderte Kieffer. »Aber Kats war in meinem Fouer-Restaurant, kurz bevor er starb. Deshalb möchte ich gerne mehr über ihn wissen.«
Falls Kwaukas diese Erklärung seltsam erschien, ließ er sich nichts anmerken. »Ich kannte ihn, allerdings nicht sehr gut«, sagte der Fondsmanager und musterte Kieffer mit einem unangenehm durchdringenden Blick. »Aber vorher klären wir die Rahmenbedingungen. Alles off the record, was ich sage, nur für Sie. Und quid pro quo.«
»Was wollen Sie denn im Gegenzug wissen?«
»Die Umstände von Kats’ Tod. Die Reaktion von Melivia. Solche Sachen. Alles was in der Hedgefondsbranche passiert, ist interessant für mich.«
Kieffer erzählte Kwaukas, dass Kats’ Leiche unter der Rouder Bréck gefunden worden war. »Außerdem scheint er kurz vor seinem Tod gekündigt zu haben.«
»Ah, wirklich? Das ist interessant. Und wie hat sein Exarbeitgeber darauf reagiert?«
»Offenbar ganz normal. Angeblich gab es keinen Streit, eine einvernehmliche Trennung.«
»Ha!« Kwaukas schüttelte den Kopf und grinste spöttisch. »Das glaube ich keine Sekunde.«
»Ich kann nur wiedergeben, was ….«
»… oh, ich zweifle nicht daran, dass das die offizielle Version ist. Aber wenn einem jemand wie Kats abhandenkommt, ist das ein doppeltes Desaster.«
»Weil er ein Mathematikgenie war?«
»Ja, erstens. Kats war für uns Hochfrequenzhändler so etwas wie Hawking für die Physiker. Kontinuierliche Renditen von dreißig bis vierzig Prozent, über mehr als zehn Jahre. Und seine wissenschaftlichen Arbeiten – seine Algorithmen waren bahnbrechend, seine Modellierungen versteckter Markov-Prozesse haben alles verändert.«
»Was ist ein Markov-Prozess?«
»Eine statistische Methode, die den Kern dessen berührt, was wir hier machen: Die Zukunft vorherzusagen.«
»Die Zukunft von Börsenkursen?«
»Ja. Es weiß ja eigentlich niemand, warum so ein Wertpapier steigt oder fällt. Manche sagen, die Kursbewegungen seien reiner Zufall, aber das ist falsch. Die Gründe für Preisschwankungen sind lediglich wahnsinnig vielschichtig und komplex. Mit Markov-Modellen kann man Ereignisfolgen abbilden, die anscheinend keine Beziehung zueinander haben. Schauen Sie, es ist im Prinzip wie bei Monopoly: Jeder Würfelwurf ist zufällig, aber die Position der Figuren auf dem Brett ist es nicht. Sie hängt nämlich davon ab, wo die Figuren vor dem Wurf standen. Wenn man aber nur eine Ebene kennt – Würfel, Aktionskarten, Spielfeld – könnte man vielleicht annehmen, dass alles zufällig passiert, weil man das Gesamtsystem nicht erfassen kann. Mit der Börse ist es im Prinzip
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