Letzte Fischer
Blick über die vielen Gischtberge schweifen, entdeckte aber nirgends ein Zeichen. Der Wind komme zwar von Nordost, was ungewöhnlich für den Herbst sei, aber solle dies die Antwort sein? ›Nein‹, dachte sie. ›Der Wind ist der Wind und das Meer ist das Meer. Das darf man niemals vermischen.‹
Mathilde hielt den Blick mitten aufs Meer gerichtet:
›Da bin ich also! Die Frau des Fischers ist da. Ich bin gekommen. Da bin ich. Ich erbitte die Freigabe meines Mannes von dir, sprechender Fisch, ich rufe dich! Ich rufe: Manntje, manntje, Timpe Te – Buttje, buttje in der See! Wo bist du, sprechender Fisch?‹
Mathilde stand auf und hielt sich mit dem Blick weiter am Meer fest:
›Gib meinen Mann also frei! Du hast es gehört! Aus freien Stücken kam er zu dem Schluss, dass er für sich bei dir keine Zukunft mehr sieht. Es ist an der Zeit, sich von ihm zu trennen. Scheide dich im Guten von ihm, behalte ihn in guter Erinnerung, aber ziehe ihn nicht mit dir in die Tiefe, nur weil er zweifelt.‹
Einige Dutzend Stufen ging Mathilde hinunter, Gischt spritzte ihr an die Hosenbeine:
»Ich will meinen Mann nicht umsonst von dir zurückhaben. Sprechender Fisch, du hast genug gegeben, ich will einen Tausch! Ich gebe dir etwas, das ich genauso liebe wie meinen Mann! – Es ist meine Tochter! Luise bleibt bei dir, Luise ist glücklich mit dir, aber Robert ist es nicht mehr. Hörst du? Erkläre dich einverstanden! Manntje, manntje, Timpe Te – Buttje, buttje in der See! «
»Mit wem sprichst du da?«, hörte Mathilde Roberts Stimme schwach im Jaulen des Windes. Sie drehte sich um und erschrak, stand er doch unmittelbar hinter ihr.
Sie lächelte, stieg die beiden Stufen zu ihm hoch und umarmte ihn fest. Sie glaubte das Zeichen der See verstanden zu haben. Die See hatte ihn zu ihr geführt.
»Was ist denn mit dir, Mathilde?«, fragte Robert, der seine Frau an sich presste: »Weinst du etwa?«
»Vor Glück, dass du jetzt hier bist! – Ach was, das ist nur der scharfe Wind! – Was glaubst du denn?«
»Komm, meine Liebe, lass uns wieder hochgehen!«, sagte Robert und zog sie mit sich nach oben. Auf dem Steilufer, im Windschatten der bröckelnden Mauer sagte er zu ihr: »Ich habe nachgedacht.«
Mathilde nickte.
»Ich will es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, wenn ich übermorgen wieder auf große Fahrt gehe. Es könnte gut sein, dass das meine letzte Fahrt ist. – Vielleicht hast du Recht! Vielleicht hat das alles keine Zukunft mehr. Vielleicht mache ich mir nur etwas vor? – Aber diese fünf Monate im Fanggebiet vor Ostafrika, die muss ich noch abreißen.«
»Oh, Robert!«, brachte Mathilde mit einer eigenartig verzerrten Stimme heraus, ehe sie sich küssten.
Arm in Arm machten sie sich auf den Heimweg, als Mathilde sagte: »Wir kaufen uns eine große Yacht! Eine sehr große! Und wenn wir das Haus dafür verkaufen und uns dafür in eine kleine Wohnung einmieten müssen, dann soll es mir recht sein! – Und Luises Lebenserfüllung ist es ja sowieso, all die Schiffe auf dem Meer zu bewachen.«
»Christ geblieben bin ich nur wegen eines einzigen Bibelsatzes, alles andere halte ich für Aberglaube und für Märchen«, schrie Thomas, und Luise ermutigte ihren Kollegen nickend, den Satz auszusprechen. Sie befanden sich auf dem Brückendach des Walfängers Rimbaud und hatten wenig zu tun, betrug die Sichtweite doch keine fünfhundert Meter.
Sie standen dick angezogen und mit Halteseilen an die Ösen der Metallplanken geknotet, an denen auch die kleine Funkantenne befestigt worden war, die im Seegang hin und her peitschte, so dass sich Luise und Thomas vor ihr ständig in Acht nehmen mussten.
Das Fangschiff schaukelte bedenklich durch den dichten Nebel, und Luise hatte sich darüber gewundert. Sturm und Nebel, das passe nicht zusammen, doch nun wünschte sie sich nur noch, die Mannschaft möge endlich wieder einen Wal erlegen, denn dann würde das Schaukeln für eine ganze Stunde aufhören. Sie rutschte auf dem kleinen Dach hin und her, die Seile quetschten ihr die Hüfte, und ein paar Mal war sie schon gegen die Reling geworfen worden, während sie den nahen Horizont im Auge behielt, um eventuelle Angreifer zu sichten.
Es war kurz vor dem Ende ihrer zwölfstündigen Schicht, und weder hatte sie in dieser Zeit die Sonne gesehen noch den Mond. Es war grau geblieben, die ganze Zeit, und da dieses Grau aber ein wenig aufhellte, ging es wohl eher auf zwölf Uhr mittags als auf zwölf Uhr nachts zu.
Auf dem
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