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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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höchsten Punkt des Schiffes waren die Bewacher den Bewegungen der See mehr als die anderen ausgeliefert, dafür aber bekamen sie von der Sturmgischt wenig mit. Bis hierher reichten die über Bord tretenden Wassermassen nicht. Nässe sickerte nur aus dem fast körperlichen Grau um sie herum.
    Wieder nickte Luise ihrem Kameraden zu, der diese Geste aber erneut nicht bemerkte. Sie seufzte, holte tief Luft und schrie gegen den Wind an: »Welcher Satz?«
    In Gedanken fügte sie noch einen Fluch hinzu.
    Thomas drehte sich langsam um, Luise glaubte einen Moment lang, ein Nebelschwaden lege sich ihm auf den Kopf, den sie wegwischen müsse, ehe sie in seine Klüsen starrte, mit denen er sie musterte. Er nickte und hustete, sammelte seinen Atem und schrie in ihre Richtung: »Der Satz geht so: ›Verzeih deinen Sündigern – und dir wird verziehen!‹ – Alles andere: Bullshit!«
    Luise nickte: Sie habe verstanden.
    »Wenn man verzeihen kann, dann hat man viel vom Sinn des Lebens kapiert! – Sehr, sehr viel!«, brüllte Thomas, und wieder nickte Luise: Sie habe auch inhaltlich verstanden.
    Luise dachte dabei an ihren Stiefvater und an ihre Mutter. Beide hatten nicht verziehen, sie wusste es. Und nun kam ihr Thomas damit!
    Weder hatte Robert seiner Mutter verziehen, noch Mathilde ihrem ersten Mann. Roberts Kaspar-Hauser-Dasein, Mathildes Vergewaltigungsleben – wäre jetzt nicht der Sturm so brutal laut, Luise hätte genau das zu Thomas gesagt, dem schlauen Thomas, dem heiligen, dem verpissten Thomas: ›Es gibt kein Recht auf Vergebung! Noch nicht einmal eine Pflicht gibt es!‹
    Klar, einem Gegner, der einem eine Kugel in den Unterschenkel gejagt hatte, dem konnte man leicht verzeihen, aber der eigenen Mutter oder dem eigenen Ehemann, die so viel Mist verzapft hatten, nein, Luise war sich da nicht so sicher, ob verzeihen da überhaupt möglich war, möglich und nötig.
    ›Ehre deine Eltern und verzeihe, dann wird dir verziehen‹, Luise war recht froh, dass die Natur gerade so aufbrausend war und sie nichts antworten konnte. Der Nebel fraß die Sätze, und der Sturm spuckte sie einem höhnisch wieder ins Gesicht.
    Das war es ja auch, was sie an der Männerwelt mochte: In ihr gebe es wenig Platz zum Reden.
    Musste etwas gesagt werden, dann musste es in ganz kurze Sätze passen, und diese Kürze wiederum verlangte, dass man lange nachdachte, um sie überhaupt hinzukriegen. Luise kaute an einer Antwort. Sie sah Thomas erneut in die vor Müdigkeit geschwollenen Augen. Er erwartete eine Antwort, sie kaute, sie wollte etwas sagen wie: ›Verzeihe deinen Sündigern – und dir wird verziehen.‹ – Gut und schön, aber wenn du so lebst, dass du selbst niemanden um Verzeihung bitten musst, dann brauchst du, verdammt noch mal, auch deinen Sündigern nicht zu verzeihen! Dann kannst du ihnen böse sein bis in alle Ewigkeit! Du bestrafst sie mit deinem Gutsein, ha! – Du brauchst selbst nur nicht sündig zu werden!‹
    So in etwa hätte sie gern geantwortet und dabei an ihre Eltern gedacht, die sich bei niemandem entschuldigen mussten. So in etwa, nur eben kürzer, viel kürzer! Sie sah Thomas an, der ihr zunickte: Er warte auf eine Antwort. Er erwarte eine Antwort.
    Also gut; Luise holte Atem und schrie so laut sie konnte: »Nette Idee!«
    Thomas runzelte die Stirn, winkte dann ab, sah auf die Uhr und deutete auf die Knoten. Sie nickte, und mit klammen und steifen Fingern pulte sie an den Seemannsknoten herum, wie man es ihr zuvor gezeigt hatte.
    Angeblich sollten sie ja leicht wieder zu öffnen sein, aber das war wohl auch nur ein Gerücht. Luise pulte und pulte, bis Thomas sich zu ihr hockte, an einer Krümmung des Seils zog, an einer anderen schob und den Knoten gelöst hatte.
    Er zog sie zu sich nach oben und schrie ihr ins Ohr, sie dürfe sich daraus nichts machen, sie sei eben Linkshänderin und für gewöhnlich seien Seemannsknoten von Rechtshändern erfunden worden.
    »Nicht alle!«, schrie sie, nun wollte sie doch das letzte Wort haben, und ließ die Zwillinge vorbei, die aufs Dach kamen, ehe sie die Stufen herunterstieg.
    Mit Thomas ging sie innenbords und verstaute in der Bugkabine die wasserfeste Kleidung. Sie behielt den Rollkragenpullover und die Kampfhose an. Die schwarzen Kampfstiefel öffnete sie, ließ sie aber an den Füßen. Die Schnürsenkelenden klapperten auf dem Metallboden, als sie zur Mannschaftsmesse ging, um sich einen Tee zu holen. Luise hielt die Tür auf, sah sich um, fand Tommy aber nicht. Thomas

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