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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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kommen können in einer Stadt, in der die Menschen den Zehnten ihrer Einkünfte der Kirche gaben. Für Augenblicke dachte Sowtschick, daß er sich zu diesen Leuten stellen könnte und sagen: Nehmt mich hin. Ich bleibe bei euch. Auf Kaffee und Tee würde er verzichten können...
    «Dünnbrettbohrer». War ein solches Wort überhaupt justitiabel? War das nicht eher ein Kompliment? Auf besondere Sorgfalt gemünzt, auf Sensibilität?
    Beim letzten Zahnarztbesuch gemerkt, wie behutsam sich der Arzt dem Nerv genähert hatte?
    Er hatte in seinem ganzen Leben noch keiner Fliege was zuleide getan, auch als Soldat nicht, und wenn, dann auf Befehl. Und nun dies!
     
    Das Buch über 70/71 erwies sich als ganz unterhaltsam. Links hatte er das Tagebuch des Anglers liegen mit den Fischen, Maul auf, Maul zu, und rechts das Buch über 70/71. Abbildungen von stürmenden Soldaten im Feuer, von Leichenhaufen und von der Erschießung der Franktireurs. Am Schluß die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles. Der Großherzog von Baden bringt das Hoch auf den Kaiser aus. Auf den«deutschen Kaiser», nicht auf den«Kaiser von Deutschland», wie es spitzfindig in letzter Sekunde formuliert worden war. Der Bayer war ganz zuletzt noch rumgekriegt worden. Der hatte Geld gebraucht.
    Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?
Nein! Nein! Nein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
    Die Fürsten hatten sich umarmt, und ein Chor von Unteroffizieren und Gemeinen hatte Choräle gesungen.
     
    Am Abend ging Alexander ins Konzert.
    Bevor es noch richtig losging, trat ein junger Mensch auf die Bühne und sprach ein Gebet. Dies machte auf Alexander einen besonderen Eindruck. Dann sangen hundert Sänger Brahms,«getragen»ist gar kein Ausdruck, danach dann aber schnell was Lustiges. Hick-hack-hocky-hei oder so ähnlich. Und das Publikum war dankbar für das Lustig-Schmissige, das merkte man am Klatschen. Je lustiger ein Stück war, desto rasender der Beifall. Ja, das ist gut! Hick-hack-hocky-hei! Lustig sein! Keine Trübsal blasen! Für Trauerklöße ist bei uns kein Platz.
     
    Anschließend wollte Alexander in einem mexikanischen Lokal was essen. Neun Uhr? Alle Stühle hochgestellt: In dieser Stadt gab es nach acht Uhr nirgends mehr was zu essen. Auch das hatte mit den Mormonen zu tun.
    Immerhin, in einem kleinen Restaurant, genannt«Godfather’s Pizza», bekam er Tomatentorteletts - lauwarmes Muskatwasser gab es zu trinken.

28
    In seiner als«große Vorlesung»angekündigten Veranstaltung am nächsten Tag saß abkommandiertes Volk, kräftige Farmersöhne und Farmermädchen. Es war nicht anzunehmen, daß seine Botschaft ankam, wenn denn eine Botschaft in dem steckte, was er zu bieten hatte. Aber auch von prustendem Lachen war die Jugend weit entfernt. Hick-hack-hocky-hei! Mit so was konnte er nicht dienen, obwohl er vorwiegend Stellen für seine Lesung herausgesucht hatte, die nicht frei von Komik waren. Es wurde gebetet, und dann saßen die Leutchen starr und steif und sahen ihn an. Daß sich niemand rührte, dafür sorgte schon Flowers, der sich für alle Fälle neben ihn gesetzt hatte und die Studenten durch strenge Miene in Schach hielt. Zuspätkommende strafte er mit unangenehmen Blicken ab; auch daß jemand sich wiederholt schneuzte, war ihm nicht recht. Einer riß lang und breit den Reißverschluß seiner Tasche auf und zu, der wurde aufgefordert, den Raum zu verlassen.«Und zwar sofort!»«Das sind ganz harmlose Jungen», sagte Flowers zu Sowtschick,
    «das müssen sie denen nicht übelnehmen.»
     
    Im Seminar lauschte Sowtschick dann Referaten, die nervöse Studenten über seine Bücher hielten, jeder hatte ein anderes zu besprechen.«Hetzjagd in Andante»,«Kaum einen Finger breit»- da waren sie wieder, die alten Gesellen, oft nicht wiederzuerkennen.«Die Winterreise».
    Das soll ich geschrieben haben?, dachte Alexander - gar nicht schlecht … Aber meistens doch: um Gottes willen!
    Ein verwegener Student hatte in den«Märchen von übermorgen»sämtliche unanständigen Wörter aufgelistet. Wie oft das Wort«Scheiße»vorkommt, konnte er zum Beispiel aufs I-Tüpfelchen genau angeben.
    Alexander gab hinterher für alle einen Orangentrank aus und eine Schachtel Marmeladenkeks. Ob es stimmt, daß er sich was gedacht hat bei seinen Geschichten?, wurde er gefragt.
    Und ob es in Deutschland Telefone gibt? Und warum die Straßen alle so krumm sind?
    Beim Signieren der Bücher passierte es ihm, daß er den

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