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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Quittung ließ er sich immerhin geben, diese Fahrt würde man ihm bezahlen müssen.
     
    Im Institut machte man ihm sogleich die bittersten Vorwürfe. Die fünfte Straße? Um Gottes willen! - Und in einem Straßenlokal Hamburger essen? - Und: derartig früh hier aufzukreuzen, das Zimmer ist ja noch gar nicht frei …
    Da wurde es Sowtschick plötzlich schwarz vor Augen. Er ging in die Knie vor dem Schreibtisch der jungen Dame, die ihn einen Augenblick vermisste.
    «Was machen Sie denn für Sachen?»fragte der Institutsleiter, der herbeieilte, und die um Sowtschick herumknienden Damen wußten es ja auch nicht, auch jene nicht, die von sich gesagt hatte, daß sie kein Pflaumenmus vertragen kann.
     
    Es handelte sich also um keine Magenverstimmung, das ward offenbar, sondern um eine handfeste Vergiftung. Weiterkotzen ging nicht, in die Klinik zu fahren lohnte nicht, davon rieten alle ab, das war außerdem wegen der Zahlungsmodalitäten irgendwie schwierig. Also bettete der Institutsleiter Dr. Kirregaard den Gast mit Hilfe der Damen auf das Ledersofa in seinem Arbeitszimmer. Die Toilette war gleich linker Hand.
     
    Während Sowtschick seine heiße Stirn aufs kühle Leder schmiegte und hinüberdämmerte - so wohl hatte er sich lange nicht gefühlt, so behütet und umsorgt -, ging bei Dr. Kirregaard der Betrieb weiter, er lief raus und rein, laut seufzend. Was er alles zu tun hat! Die«Deutschen Wochen!»Da macht man sich ja keine Vorstellungen! Dauernd kommen Gäste und beschweren sich, und nun dies? Lucinde Pechel und Adolf Schätzing … Er tut es ja gern, das gibt er zu, hier seinem Gast nach besten Kräften zu helfen. Aber er weiß gar nicht, wie er das alles schaffen soll, was täglich auf ihn einstürmt … Und was die fünfte Straße anging, da sagte er: um Gottes willen! Und er erzählte von einem Professor, der auf dem Wege zur Columbia-Universität eine Station zu früh die U-Bahn verlassen habe. Mit Klingeldraht erdrosselt sei er aufgefunden worden.
    Habe der Schätzing was gegen ihn? Er habe gesagt: Sowtschick? Alexander Sowtschick? Der kommt auch?
     
    Eigentlich hieß der Direktor«Kierkegaard», aber ein verbrecherischer Standesbeamter hatte nicht richtig zugehört und den Namen verballhornt. Nun umwob den Mann eine verschattete Tragik, die noch dadurch erhöht wurde, daß seine Frau ihren Mädchennamen weiterführte.«Fussel»hieß sie, das mußte man sich mal vorstellen. Gertrude Kirregaard-Fussel?
    Kirregaard war irritiert von den Verwicklungen dieses Tages. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und er seufzte: ein Kranker in seinem Büro!, und wenn er aus- und einging, seufzte er auch, aber Sowtschick ließ es sich nicht anfechten. Ihm kam es so vor, als kulminiere sein ganzes Leben in diesem Zustand, als sei er«angekommen», um nie wieder wegzugehen.
     
    Um Gemeinsamkeiten herzustellen und dem Mann Dankbarkeit zu bezeigen, setzte er an zu erzählen, daß er mal in Augsburg in einem Antiquariat eine Goethe-Ausgabe erster Hand gekauft habe, vor vielen Jahren, ein niedliches kleines Antiquariat mit netten jungen Leuten, von der Hauptstraße rechts ab irgendwie, eine größere Kirche in der Nähe … Aber das konnte er hier nicht loswerden, das war offensichtlich … Größere Kirche?, fragte Kirregaard, nein - um Gottes willen, das war nun wirklich nicht mehr zu ertragen, und es fehlte nicht viel, und er hätte sich mit der Faust vor den Kopf geschlagen.
     
    Den ganzen Tag lag Alexander auf dem Ledersofa und dämmerte vor sich hin. Lucinde Pechel? In den Siebzigern hatte sie Weihnachtslieder umgedichtet in kommunistische Propagandasongs.
    O Kapital, o Kapital,
wie heiß sind deine Aktien …
    Jetzt Mitarbeiterin am erzkonservativen Globus , der keine Amerikaglossen von ihm bringen wollte.
     
    Und Schätzing? Hatte der nicht zu der verhetzten Jugend gehört, langhaarig, die ihm auf dem Rathausmarkt die Krawatte aus der Jacke gerissen hatte? WERKTAG UND LITERATUR. Gar mit der Faust gedroht? Und jetzt so feinsinnig mit seinen«Reflexionen»…
    «Armes Deutschland», war da nur zu sagen.
     
    Am Nachmittag erschien ein Arzt, vor dem mußte Sowtschick den harten Leib entblößen. Ihm wurde eine milde Flüssigkeit eingeflößt, die ihn so kräftigte, daß er am Abend bereits einen Blick aus dem Fenster werfen konnte auf die imponierende Kulisse der City, über den Central Park hinweg, aus dem in der Nacht Hilfeschreie zu hören seien, wie man ihm erzählte.«Tagsüber können Sie ohne weiteres in dem

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