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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Sonnenblumen in jeder Größe. Eine Landkarte hing an der Wand mit den Anbaugebieten dieser Pflanzen und wieviel hier und wieviel dort geerntet wird.
     
    Die Helfersfrau war gerade damit beschäftigt, Bücher zu ordnen, die in einer Ecke aufgebaut waren, ein Haufen zerlesener Schwarten. Eine Nähmaschine an der Wand und ein übergroßer Fernsehapparat, alles freundlich und gemütlich, und natürlich schien die Sonne gerade ins Fenster hinein.
     
    Zehn Jahre lang hatte man hier einen netten Lehrer gehabt, aus Deutschland herübergekommen, einen liebenswürdigen älteren Herrn, im vorigen Jahr war er fortgezogen in seine Heimat zurück.
    An der Wand hing noch eine Deutschlandkarte, die Zonengrenze mit Stacheldraht markiert, und auf dem Regal ein aus Streichholz gebastelter Wachturm. Daneben stand das Foto eines Dorfs, das Sowtschick bekannt vorkam: Es war Sassenholz! Einer dieser sonderbaren Zufälle ereignete sich also, die es nun mal gibt im Leben. Neben dem Foto der Schule stand das Porträt des Lehrers, der hier gearbeitet hatte, zehn Jahre, und vor kurzem den Dienst quittiert und wieder rübergegangen. Die Helferin erinnerte sich noch gut an den Mann, sie wußte, daß er Posaune geblasen hatte, unverheiratet. Irgendeinen Kummer gehabt, deshalb oft nachdenklich und dann ja auch abgereist ganz plötzlich.
     
    Je länger Sowtschick das Foto anguckte, desto bekannter kam ihm der Mann vor. Der war einmal am Gartenzaun erschienen und hatte sich zu ihnen in die Laube gesetzt. Hatte Marianne nicht gerade einen Korb voll Blumen geschnitten?
    Zehn Jahre her? Nein, mein Freund, viel länger. Zwanzig? Schon nicht mehr wahr.
    Sowtschick durfte sich zum Schluß sogar die kleine Wohnung des Deutschen ansehen, obwohl nicht mehr viel Zeit, es wurde schon mit den Schlüsseln geklingelt: Man konnte hier nicht ewig bleiben.
    Zwei Kammern und eine Küche, von der eine Tür in den Klassenraum führte. Jetzt stand sie leer.
     
    Auf der Rückfahrt wurden Beispiele von Zufällen angeführt: Die Welt ist ein Dorf! Daß sie in Hongkong mal einen Schulkameraden getroffen hat, sagte Frau Smith, mitten auf der Straße, den habe sie schon als Kind nicht leiden können.
    Daß sie jetzt für die Schließung dieser Schule sorgen werde, sagte sie dann noch, den alten Lehrer hätten sie schon abgemeiert. Wer könne denn so ein Experiment verantworten? Schmorten da im eigenen Saft. - Die Schulbehörde sei auch der Meinung, daß die Kinder in Far Hill aus der Enge der Verhältnisse wieder erlöst werden müßten. Schließlich lebe man ja nicht mehr im vorigen Jahrhundert.
     
    Sie wrackten also dies freundliche Relikt ab. Frau Smith hatte eben doch noch so herzlich mit der Schulhelferin geredet. Auch die würde jetzt abgewrackt werden, Bücher auf den Müllhaufen, alles abreißen und verbrennen.
    Frau Smith straffte sich, als sie davon sprach, und sie drückte aufs Gas, obwohl das bei dem Gefälle nicht ratsam war. Auch der Selbstverteidigungskurs auf dem Campus ging auf ihr Konto, wie zu hören war. Sie selbst hatte sich die nötige Kenntnis längst angeeignet. Ganz erstaunlich, wie die jungen Leute aufdrehten! Die ließen sich nichts mehr gefallen!
    Und sie sei es auch gewesen, die ihrem Sohn das Schlagzeug zu Weihnachten geschenkt habe, damit er sich mal richtig freitrommelt, den ganzen Frust raustrommelt … So wie sie selbst es jetzt mit dem Joggen mache. Jeden Tag zwei Stunden laufen! Das wirke Wunder! - Alexander hätte gern gefragt: Ob sie mit ihrem Laufen auch irgendwann mal ankommt, und wo? Aber er ließ das bleiben, schließlich mußte ihn ja morgen noch jemand zum Flughafen bringen …
    Am Abend badete sich Alexander die Füße so gründlich, als wolle er seine Hände in Unschuld waschen. Es waren noch immer dieselben Füße, die ihn nun schon vierundsechzig Jahre trugen, auch der kleine Zeh war noch derselbe. Ja, er hatte sprechende Füße, das war nicht zu leugnen, das konnte man so sagen...
     
    Zwanzig Jahre war es her, daß er mit dem Lehrer in Sassenholz ein paar Worte gewechselt hatte, sie hatten in der Laube gesessen. Hatten sie über das Auswandern gesprochen?
    Warum erinnerte er sich an den Mann? Wo waren all die anderen Menschen, die seinen Weg gekreuzt hatten? Wie hatte man sie vergessen können?
    Es hat keinen Sinn, sagte Alexander sich, es ist alles vorbei, und trocknete die Füße.
    Nach Heckle und Sheckle nahm er sich das Buch von 70/71 vor. Die Erschießung von Franktireurs, Bauernburschen, die aus dem Hinterhalt auf

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