Letzte Haut - Roman
vornehmen zu lassen, hatte die deutsche Marine doch allein in den ersten Monaten des Jahres dreiundvierzig achtunddreißig von hundertachtzig U-Booten verloren.
Nach vierwöchigem Kampf brach der Widerstand im Warschauer Ghetto am sechzehnten Mai dreiundvierzig zusammen, am zwanzigsten Mai erleichterte die Schweiz die Ausbürgerungsbestimmungen, am vierundzwanzigsten Mai gab es schwere Luftangriffe auf Dortmund, am einunddreißigsten Mai wurden die Fleischrationen in Deutschland pro Kopf und Woche um hundert Gramm gekürzt, am vierten Juni kam es in Argentinien zum Militärputsch, während Obersturmführer Doktor Kurt Schmelz am sechsten Juni dreiundvierzig bereits auf dem Weg von Berlin nach Kassel war, um ins dortige Gerichtspräsidium chauffiert zu werden, wo er mit dem Obergruppenführer Waldeck Pymont zusammentreffen sollte, um genauere Anweisungen für seinen neuen Auftrag zu erhalten, der ihn schon die ganze Zugfahrt lang beschäftigte. Immer wieder unterbrach er die Lektüre der Akten und sah aus dem Fenster, während er nachdachte.
Korruptionsdelikte, die gar keine waren! Vorwürfe, Mutmaßungen, Schmelz verstand das alles nicht. Gerade noch an der Ostfront gewesen, Befehlen gehorcht, die meist nur aus zwei bis drei Wörtern bestanden hatten, und nun sollte er plötzlich selbständig ermitteln, eigenständig handeln. Er sollte wieder Verantwortung übernehmen, und da war es wieder, dieses kleine, trügerische Wort. Obersturmführer Schmelz wühlte in den Akten, vermutete Unregelmäßigkeiten in der Umgebung von Weimar, was sollte das bloß alles?
Und was genau war ein Konzentrationslager? Konzentrationslager Buchenwald, davon hatte er noch nie etwas gehört. Ärgerlich sah er aus dem Fenster, bombardierte Vororte einer größeren Stadt, Magdeburg vielleicht, aber worüber ärgerte er sich eigentlich? Sollte er nicht froh sein, wieder schalten und walten zu können, wie er es für richtig hielt, anstatt sich von dämlichen Rottenführern den Marsch blasen zu lassen? Doch vertraute er sich soweit, das war ja dann wohl die Frage der Fragen, vertraute er sich soweit, nicht wieder Mist zu bauen, wenn er erst einmal loslegte? Obersturmführer Schmelz strich über den Geleitbrief des Reichsführers SS, den ihm der schweigsame und nervöse Arthur Nebe übergeben hatte. Im Auftrag vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes Kaltenbrunner.
Mehr nicht, Nebe war so nebulös wie sein Name geblieben, hatte ihm lediglich den Brief ausgehändigt, hatte ihn kalt als neuen Beamten der Kripo begrüßt und ihn in Kenntnis gesetzt, dass er sofort zum Chef des Wehrkreises neun nach Kassel fahren solle, wo er dann alles Weitere erfahre. Was für ein Mann, dieser Nebe, Schmelz hatte sofort gespürt, dass der kein reines Gewissen besaß. Wie ein Verräter habe der sich benommen, wie ein Hochverräter! Wenn der nicht diese hohe Uniform getragen hätte … Obersturmführer Schmelz meinte, Gruppenführer Nebe, Chef der Kriminalpolizei, müsse einmal gründlich verhört werden; da war es schon wieder so weit! Verdammt! War er denn kein bisschen schlauer geworden an der Front? Es galt, sich Freunde zu beschaffen, einflussreiche Freunde, mit denen man dann Karriere machen konnte! Warum wollte er nur immer alle Vorgesetzten auf die Anklagebank bringen? Nur, um Aufmerksamkeit zu erringen? Mensch, Kurt Schmelz, das ist der verkehrte Weg, hast du es noch immer nicht begriffen, dachte er, diese Wege sind Sackgassen, die alle an der Ostfront enden und also ziemlich direkt im Sterben! Wer einen Stiefvater bekämpfen will, der braucht erst einmal einen Vater! Oder umgekehrt.
Schmelz nahm den Blick vom Fenster, sah auf die Papiere und blätterte sie weiter durch, während ihm Tausende von Kriegsszenen durch den Kopf schossen.
Erst auf der letzten Seite fand er wieder zur Schrift und las eine handschriftliche Notiz, die ihn aufrichtete, die ihn ermutigte, die ihn stolz machte, als habe sich die Hand eines Vaters auf seine Schulter gelegt: „Es wird dringend empfohlen, Obersturmführer K. Schmelz von der Front zurückzuholen. Bester Korruptionsspezialist, den die SS hat, kompromissloser Geist, der eine bestechende Dissertation hervorgebracht hat. Heinrich, hol ihn zurück und überstelle ihn mir! Das ist genau der Besen, den wir brauchen! Wie geht’s Frau und Kindern? Alles in Butter? Wir sollten mal wieder mit den Familien etwas unternehmen, Dein alter Josias.“
Ganz elend wurde es dem zweiundsiebzigjährigen Schmelz auf dem Boden seiner
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