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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Frankfurter Wohnung, als er an den Besuch beim Prinzen dachte, der sein Leben auf der einen Seite ja gerettet hatte. Auf der anderen Seite jedoch hatte er es vernichtet. Der alte Schmelz begriff das ganze Ausmaß erst jetzt, während er sich kraftlos und vor Schmerzen stöhnend auf den Ellenbogen stützte und in den Spiegel sah, der vom verschmierten Blut schon ganz blind geworden war.
    Schmelz schüttelte zwar langsam den Kopf, doch aufzuhalten sei es nun nicht mehr, stellte er fest. Dieses Erinnern werde ihm wohl zur Lebensbeichte. Es werde ihm wohl die Haut vom Leibe reißen. Und wie albern, sich eines illusorischen Enkels zu bedienen, wie ausgesprochen albern dies doch sei. Als könne er so in eine letzte Haut schlüpfen. Wie albern, dachte er, die letzte Haut hat keine Falten.
    Er zog die Beine an, stützte sich auf die Handflächen, bereitete sich vor, aufzustehen. Sich zu erheben. Gleich, gleich, alter Mann, gemach, gemach.
    In der Reichshauptstadt säten die Berliner auf öffentlichen Plätzen Korn, bewachten diese Felder Tag und Nacht und ernteten Mitte Juni. Trotz Flächenbombardements konnte die Ernte eingebracht werden. Der Alexanderplatz hatte sich in jenen Tagen in einen Gemüseacker verwandelt, Obersturmführer Schmelz hatte es nur flüchtig vom Zug aus gesehen, als er am sechsten Juni dreiundvierzig auf dem Weg nach Kassel war.
    Er erreichte die hessische Stadt ohne unplanmäßige Aufenthalte und ließ sich direkt zum Amtssitz des Gerichtsherrn des Wehrkreises neun fahren, der zugleich auch eines der Privatschlösser des Obergruppenführers Waldeck Pymont war. Schmelz meldete sich beim wachhabenden Offizier und wurde wenig später von einem Scharführer durch drei Flure geführt, bevor ihm eine unscheinbare Tür im obersten Stockwerk des Schlosses geöffnet wurde.
    „Ihr Zimmer, Obersturmführer, der Obergruppenführer erwartet Sie dann morgen früh um neun Uhr in seinem Arbeitszimmer auf Korridor elf im Südflügel“, sagte der Scharführer, der ihm das Gepäck ins Zimmer stellte und kurz darauf die Tür von außen schloss.
    Schmelz blieb in einer Kammer zurück. Zwischen zwei unscheinbaren Türen, die links und rechts der Eingangstür waren, befanden sich gegenüber vom Eingang unter dem Fenster, das die Größe eines Ofenbleches hatte, ein Tisch und drei Stühle. Auf einem von ihnen stand der Koffer des Obersturmführers, auf einen der beiden anderen setzte er sich selbst, streckte die Beine unterm Tisch aus, verschränkte die Hände hinterm Kopf und bog den Oberkörper über die Lehne hinweg. Er stöhnte vor Wohlbehagen auf und sah lange aus dem kleinen Fenster, während er meinte, jetzt gehe es los. Jetzt gehe es noch einmal von vorne los. Jetzt seien die Karten noch einmal neu gemischt worden.
    Weiße Wolken schwebten am grellblauen Himmel vorbei und änderten ihre Gestalt. Obwohl der Ausblick doch sehr begrenzt sei, dachte Schmelz, schaffe solch eine Wolke doch laufend neue Tatsachen. Er testete seine Fantasie, um sich abzulenken und zur Ruhe zu zwingen.
    Was für ein Aufwand doch betrieben worden war, nur, damit er hier sitzen konnte. Schmelz sah einen voll erblühten Baum am Himmel. All die Vorbereitungen, um ihn von der Front hierher zu holen. Vorgestern noch mit Dauerfeuer vor den Sowjets flüchtend, gestern dem Reichsführer Himmler die Hand schüttelnd, dann dem Kaltenbrunner, dann dem Nebe! Ihre Glückwünsche, dass er von der Front zurück sei! Ihre Hoffnungen, dass er sich an der Front bewährt habe! Dass er aus der ganzen Sache gelernt habe und nun im großen Stil seinem Ruf als Korruptionsjäger wieder Ehre machen könne. Ehre, jawohl! Im großen Stil! Jawohl, im ganz großen! Buchenwald, was immer du auch verbirgst, ich werde es dir entreißen, dachte Obersturmführer Schmelz, ich werde dich notfalls auseinandernehmen, genauso wie wir Kiew zerlegt haben! Dir werde ich zeigen, was wir Wikinger mit unseren Feinden machen! Wir schaffen Tatsachen, Tatsachen und immer wieder Tatsachen! Jetzt hält mich nichts mehr auf! Ich habe die Rückendeckung, die mir früher immer gefehlt hat und deren Mangel mich fast in den Tod getrieben hat, aber ich habe überlebt, ich habe die Ostfront überlebt! Ich habe überlebt, und nun steht Himmler persönlich hinter mir! Mit einem Geleitbrief, Schmelz, alter Sack, was willst du mehr? – Entschuldigung, was kostet die Welt?
    ‚Jawohl, Reichsführer‘, hatte er gesagt: ‚Sie können sich ganz auf mich verlassen! Ich habe meine Lektion gelernt, mit

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