Letzte Haut - Roman
fragte Liebig und legte dabei all seine jugendliche Unbekümmertheit in den Satz, die freilich auch nur gespielt war. Auch er ahnte nur Schlechtes. Noch nie hatte er seinen Vorgesetzten so verwirrt gesehen, so verwirrt und hilflos.
„Ich habe die ganze Zeit schon darüber nachgedacht, und dass das Motiv bei Krämer ein so banales ist, zeigt doch nur, was für eine Drecksau dieser Standartenführer ist, meine Herren, das ist unfassbar! Aus Eitelkeit zu töten. Eigennutz, Egoismus, damit haben wir ihn natürlich. Nie im Leben kann er einen Befehl vorzeigen, Krämer töten zu sollen, der weder homosexuell war, noch Zigeuner, noch Jude, noch Kommunist, noch Kriegsgefangener. – Hier bewachen die Verbrecher das Lager, und die Unschuldigen sitzen drin, das habe ich aber nie gesagt! Also“, sagte Schmelz und legte eine Pause ein, in der weder Liebig noch Tarnat zu atmen wagten.
„Also, Koch ist gemeingefährlich. Der muss aus dem Weg geräumt werden, soviel ist ja nun wohl klar“, fuhr Schmelz fort: „Mord aus niedrigstem Beweggrund. Und wenn niemand gegen ihn aussagen will, dann werden wir sie eben alle zwingen, gegen ihn endlich auszusagen.“
Erneut machte Schmelz eine Pause, in der er aufstand und für alle drei Wasser in Gläser füllte. Er trank das seinige in einem Zug aus und setzte sich wieder, so aufrecht wie möglich, hinter den Schreibtisch. Er legte die Hände flach auf den Tisch und zwang sich nun, schnell zu sprechen, schnell und klar: „Letzte Woche habe ich erfahren, dass unsere Rückendeckung zu wünschen übriglässt. Obergruppenführer Pohl bedrängt seine Männer immer mehr. Er hat Gestapomüller auf uns angesetzt, und er setzt selbst Obergruppenführer Waldeck Pymont wegen unserer Sache zu. Außerdem belagert er den Reichsführer SS täglich, und dieser ist mittlerweile geneigt, Obergruppenführer Kaltenbrunner den Auftrag zu geben, die Ermittlungen abzubrechen, die sich nun schon elf Monate hinziehen. Das alles hat mir Ihr Vorgesetzter, Gruppenführer Nebe, Chef der Kripo, warnend gesteckt, und noch halten zwar Kaltenbrunner und der Erbprinz zu uns, aber beide geraten sehr in Bedrängnis, und alles nur, weil wir keinen Erfolg haben! Wir sind zum Erfolg verdammt, ansonsten geraten wir selbst in die Schusslinie, meine Herren. Wenn es Pohl tatsächlich gelingt, Koch hier wieder herauszuholen, dann wird er als zweites gegen uns drei vorgehen! Wir werden selbst in einem dieser Lager enden, sofern wir keinen Erfolg haben. Himmler ist geneigt, Pohl zu glauben, dass es hier keine Unregelmäßigkeiten gibt, obwohl Kaltenbrunner ihm beharrlich versichert, hier beständen eklatante Sicherheitsrisiken, und so tragen da oben der Chef des Reichssicherheitshauptamtes und der Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes vor dem Schreibtisch des Reichsführers einen Kampf aus, den wir hier unten endlich entscheiden müssen! Was alles so banal anfing, mit dem Spleen des Prinzen, das könnte uns jetzt begraben, sofern wir keinen Erfolg haben. Wir stehen unter Erfolgsdruck, und ich bin geneigt, diesem ganzen Spuk endlich ein Ende zu machen. Soweit zur Ausgangslage, meine Herren!“, sagte der Ermittlungsrichter und lehnte sich zurück.
„Was meinen Sie, Hauptsturmführer?“, fragte Untersturmführer Liebig, Beamter der Kriminalpolizei im Hauptamt Berlin.
„Meine Herren, ich werde das ‚Prinzip der Ausschließlichkeit‘ anwenden“, sagte Schmelz.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Obersturmführer Tarnat, Beamter der Kriminalpolizei im Hauptamt Berlin. Leise, abwartend, und ein wenig drohend klinge es auch, meinte sein Kollege Liebig.
„Ich bin dafür gemacht, Tatsachen zu schaffen, Tatsachen und immer wieder Tatsachen. Diese Tatsachen entwickeln sich dann zu Beweisen, das ist eine ehrliche, pragmatische Herangehensweise, die ich mir angelernt habe. Schnell und effizient zu sein, bedeutet, gut zu sein“, sagte der Ermittlungsrichter und hielt erneut inne.
Die vielen Pausen zerrten am dünnen Nervenkostüm seiner beiden Kollegen, aber noch konnten sie parieren und abwarten. Sie wussten, wenn Doktor Kurt Schmelz von Tatsachen anfange, die er unbedingt schaffen müsse, dann sei sein Verstand ausgeschaltet, dann sei er ein Meer, das nur noch dem Mond gehorche, dem Mond und dem Sturm.
„Das ‚Prinzip der Ausschließlichkeit‘ bedeutet, wenn man einen Täter nicht durch seine Tat überführen kann, dann muss man die Tat mit dem Täter verbinden. Dies wiederum bedeutet, man geht vom Tatwerkzeug aus,
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