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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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schnell, wie er sich aufgeregt hatte.
    „Die Alternative ist, dass wir grübeln, bis wir schwarz werden, und dann doch handeln. Also handeln wir lieber gleich, und grübeln wir nachher, bis unsere Seelen schwarz sind und uns die Haut abgefault ist“, sagte Tarnat, und weder Liebig noch Schmelz wussten, ob es sarkastisch gemeint sei oder nicht.
    „Ich brauche Sie beide als Zeugen. Sie sind die einzigen Beamten hier“, sagte Schmelz: „Heute Nacht. Vergessen Sie nicht, Jesus war konsequent, sind wir es auch! Vergessen wir nicht, Mutter Courage war konsequent, sind wir es auch! Vergessen wir nicht, konsequent zu sein, ist ein Attribut aller Heiligkeit!“
    „Und morgen ist ja auch sowieso Ostern!“, platzte es aus Liebig erneut heraus, der sich gegen diese Feststellung nicht wehren konnte und überrascht aufsah, als Schmelz flüsterte: „Ganz genau! Morgen ist das heilige Fest!“
    Das heilige Fest! Ostern! Gezwungen, über Leichen zu gehen, ging ich über Leichen, dachte der zweiundsiebzigjährige Kurt Schmelz auf dem Bett seiner Frankfurter Wohnung, ich tat es, und nein, das war nicht Ding Schuler gewesen, das war ich gewesen!
    Ich selbst!
    Das also ist es.
    Das ist der Schatten im Blick, oh Gott, ich hatte so fest behauptet, der Leiter der Versuchsstation wäre es gewesen, dass ich es tatsächlich selbst geglaubt habe.
    Und Tarnat hat es mit ins Grab genommen, und Liebig, der gute Liebig hat nie ein Wort darüber verloren.
    Schuld, die mir unter die Haut gekrochen ist, aber die ist ja ab, Gott sei Dank, die ist ja weg.
    Alles stand ihm vor Augen, alles kam ihm wieder in den Sinn, das ganze Ausmaß seiner Tat. Er hatte selbst vorgeschlagen, einen Mord zu begehen, und ja, er hatte viermal gemordet, vier Häftlinge! Vier Mordfälle, um einen Mörder zu überführen.
    Ja, das war er gewesen.
    Das war kein Märchen!
    Diese Grausamkeit hatte er begangen. Inmitten des allgemeinen Mordens war auch er zu einem Mörder geworden.
    Zu einem vorsätzlich handelnden Mörder! In der Robe eines Richters.
    Doktor Kurt Schmelz stöhnte, er lag wie gelähmt. Nichts konnte er mehr bewegen. Gar nichts.
    Er selbst war ein Serienmörder, und mit nichts konnte er diese selbst geschaffene Tatsache entschuldigen!
    Nie hatte er nach der Kapitulation mehr ein Wort darüber verloren. Als wäre es niemals geschehen! Und niemand hatte ihn deswegen angeklagt, nichts war also übriggeblieben, bis auf diesen Schatten im Blick, an den er sich in all den Jahren gewöhnt hatte, und bis auf dieses unerträgliche Krabbeln, Kratzen und Kriechen unter der Haut, das ihn jetzt befallen hatte und von dem er sich wohl nur mit dem Tod befreien konnte.
    Haben all die Aussagen nach dem Krieg doch nicht die Schuld tilgen können, fragte er sich jetzt, diese Schuld, die unentdeckt geblieben sei?
    Konnte er sie wenigstens aufwiegen? Aufwiegen mit den Anklagen gegen die fünf Lagerkommandanten im Winter vierundvierzig? Oder mit den Aussagen in den Nürnberger Prozessen fünfundvierzig und siebenundvierzig?
    Nichts da!
    Wegen einer Sache, gestehe es dir ein, dachte er: Wegen einer Sache hast du vier Menschen getötet. Das war es! Das holt mir die Haut vom Leib! Darum das zwanghafte Abreißen!
    Doch eine zweite Haut, lieber Schmelz, die gibt es nicht. Gibt es für niemanden. So etwas gab es noch nie!
    Jeder stirbt mit seiner Haut!
    Sie war ihm zerfetzt, der Verstand war ihm zerstört, der Leib lag ungeschützt da, unerbittlich breitete sich die bleierne Luft auf seinem nackten Fleisch aus und er wurde vor Qualen ohnmächtig.
    Wundbrand brach aus.
    Schmelz starb an seiner Haut, am Fehlen seiner alten Haut.
    „Man kann keinen Drachen töten, ohne selbst einer zu sein“, sagte Tarnat in der Nacht zum Ostersonntag, dem zehnten April vierundvierzig, während die drei Ermittlungsbeamten zur Fleckfieberversuchsstation gingen, wo Doktor Ding Schuler schon auf sie wartete, der ihnen assistieren sollte. Es war zwei Uhr nachts. Das Lager war bis auf die Hunderudel ruhig, und bis auf die rotierenden Scheinwerfer war es auch dunkel.
    Sie grüßten den Arzt, der sie ins Behandlungszimmer sieben führte, wo schon alles vorbereitet war. Karfreitag hatten sie es im letzten Moment abbrechen müssen, weil Liebig zusammengeklappt war, aber heute wollten Sie es endlich hinter sich bringen.
    „Einen Kaffee?“, fragte Ding Schuler.
    Die drei Beamten schüttelten den Kopf.
    Schmelz sagte: „Tun wir, was wir nicht lassen können.“
    Der Arzt nickte.
    Er deutete auf einen

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