Letzte Haut - Roman
wäre es nicht möglich gewesen, auch nur in eines dieser Lager zu kommen und meine Untersuchungen zu führen. Niemand in Deutschland, der nicht dafür ausgewählt wurde, kennt diese Lager von innen. Wir wissen nur ungefähr, dass es sie überhaupt gibt, und ich bin einer der wenigen, dem es dank einer Sondergenehmigung des Reichsführers SS gestattet war, in allen Lagern meine Untersuchungen durchzuführen. Viele der Anwesenden kennen mich bereits persönlich“, sagte Schmelz, drehte sich bei diesen Worten um und ließ den Blick durch die Reihen der Prozessbeobachter schweifen, ehe er zu ihnen sagte: „Sie alle wissen, dass Sie sich schuldig gemacht haben! Sie alle, die Sie in Konzentrationslagern Dienst tun!“
„Zeuge Schmelz, ich dulde kein Theater hier!“, sagte Ende empört, wobei er sogar vergaß, den Hammer zu schwingen: „Bleiben Sie sachlich, ich denke, wir haben verstanden, worauf Sie hinauswollen.“
„Ich nicht“, sagte Piepenbrock, der eine Chance witterte, den Zeugen unglaubwürdig zu machen: „Folge ich Ihrer Rechnung, dann müsste es so gut wie in jeder deutschen Ortschaft Außenkommandos von Konzentrationslagern geben, und was ich auch nicht begreife, das ist die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, was das alles mit unserem Fall zu tun hat. Wollen Sie hier das ganze Reich anklagen? Die ganze Waffen SS? Unterstellen Sie etwa, alle Mitglieder der Waffen SS sind Diebe und Mörder? Oh, Mann, Sie machen ja Ihrem Ruf alle Ehre!“
Am liebsten hätte Schmelz ja gesagt, dass genau dem so sei, dass seine Ermittlungen keinen anderen Schluss zulassen, aber er bremste sich, nachdem er kurz zu Waldeck Pymont gesehen hatte, der ihn entsetzt und mit großen Augen anstarrte.
„Nein! Natürlich nicht!“, sagte Ermittlungsrichter Doktor Schmelz: „Was ich damit zum Ausdruck bringen wollte, ist, zu unterstreichen, dass ich gezwungen war, meine Ermittlungen nicht nur auf Buchenwald zu beschränken! Praktisch aus allen Lagern erreichten uns Korruptionsvorwürfe. Überall gab es diese Verbrechen am Reich! Knapp sechshundert Fälle haben wir aufgedeckt, zweihundert und sieben Männer der Waffen SS werden in nächster Zeit angeklagt, sich strafbar gemacht zu haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass dem Gericht heute klar sein muss, dass dieser Prozess gegen Koch und andere lediglich der Auftakt zu einer Vielzahl von Folgeprozessen ist. Das hier gesprochene Urteil wird maßgeblich die Folgeurteile beeinflussen. Mir liegt eine Zeugenaussage des Buchenwalder Häftlings Heinz Waller vor, der beeidet, dass ihm der SS Unterscharführer Dieter zwei Zähne ausgeschlagen hat, weil er bei Transportarbeiten dem Haltebefehl nicht sofort nachkam. Dies nur als Beispiel dessen, wo ein Verbrechen anfängt und wo ein Befehl aufhört. Diese Straftaten haben wir außer Acht lassen müssen, ich denke aber, das hohe Gericht hat verstanden, was in diesen Lagern vorgeht.“
„Einspruch! Irrelevant!“, rief Piepenbrock.
„Stattgegeben!“, sagte Ende: „Zeuge Schmelz, das alles hat uns nicht zu interessieren und ist nicht Teil dieses Prozesses. Stellen Sie, wenn Sie glauben, das tun zu müssen, die Waffen SS woanders an die Wand, aber nicht hier. Ich gebe hiermit zu Protokoll, das Gericht interessiert sich ausschließlich für die Straftaten, die hauptsächlich mit der Person Karl Koch verbunden sind. Das Gericht möchte nichts über das allgemeine Leben in diesen Lagern wissen, weil es nicht Gegenstand dieses Prozesses ist! Die Konzentrationslager als solche stehen hier nicht unter Anklage, Zeuge Schmelz!“
„Nein“, sagte Schmelz: „Natürlich nicht! In solch einem Prozess müsste man ja auch denjenigen zur Verantwortung ziehen, der für diese Lager verantwortlich ist. Und das ist der Chef des Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamtes, Obergruppenführer Pohl!“, sagte Schmelz schnell, bevor ein empörtes Raunen durch den Saal ging. Minutenlang bekam Ende trotz fortwährender Hammerschläge den Saal nicht still, zu aufgebracht war die Menge der Zuhörer, in denen Gruppenführer Schmitt Klevenow ununterbrochen forderte, Schmelz sofort des Saales zu verweisen.
Noch während SS Chefrichter Ende hämmerte, erhob sich der Erbprinz Waldeck Pymont und schrie aus voller Brust: „Schnauze!“
Sofort war es still, und alle zweihundert Männer sahen ihn erwartungsvoll an, während Ende den Hammer beiseite legte und sich fest vornahm, sich besser zu konzentrieren. Dieser Prozess drohe ihm sonst aus den Händen zu
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